02.03.2015 Verwaltungsstrafrecht

VwGH: Zur Frage, ob der Amtswegigkeitsgrundsatz im Verwaltungsstrafverfahren vor den Verwaltungsgerichten gilt

Gem § 38 VwGVG iVm § 25 VStG gelten im Verwaltungsstrafverfahren vor den Verwaltungsgerichten der Amtswegigkeitsgrundsatz und der Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit; es kann daher die Judikatur des VwGH hiezu auch für das Verwaltungsstrafverfahren vor den Verwaltungsgerichten herangezogen werden; betreffend die Ermittlung des Sachverhaltes bedeutet dies, dass die Verwaltungsgerichte verpflichtet sind, von Amts wegen ohne Rücksicht auf Vorträge, Verhalten und Behauptungen der Parteien die entscheidungserheblichen Tatsachen zu erforschen und deren Wahrheit festzustellen; der Untersuchungsgrundsatz verwirklicht das Prinzip der materiellen (objektiven) Wahrheit, welcher es verbietet, den Entscheidungen einen bloß formell (subjektiv) wahren Sachverhalt zu Grund zu legen; der Auftrag zur Erforschung der materiellen Wahrheit verpflichtet die Verwaltungsgerichte, alles in ihrer Macht stehende zu unternehmen, um der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen; in diesem Sinne sind alle sich bietenden Erkenntnisquellen sorgfältig auszuschöpfen und insbesondere diejenigen Beweise zu erheben, die sich nach den Umständen des jeweiligen Falles anbieten oder als sachdienlich erweisen können; die Sachverhaltsermittlungen sind ohne Einschränkungen eigenständig vorzunehmen; auch eine den Beschuldigten allenfalls treffende Mitwirkungspflicht enthebt das VwG nicht ihrer aus dem Grundsatz der Amtswegigkeit erfließenden Pflicht, zunächst selbst - soweit das möglich ist - für die Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise zu sorgen; die Mitwirkungspflicht der Partei hat insbesondere dort Bedeutung, wo ein Sachverhalt nur im Zusammenwirken mit der Partei geklärt werden kann


Schlagworte: Amtswegigkeitsgrundsatz, Verwaltungsgericht, Zuständigkeit, Parteiengehör, Mitwirkungspflicht
Gesetze:

 

§ 38 VwGVG, Art 130 B-VG, § 24 VStG, § 25 VStG, § 6 AVG,§ 45 AVG

 

GZ Ro 2014/17/0121, 15.12.2014

 

VwGH: Gem § 38 VwGVG sind auf das Verfahren über Beschwerden gem Art 130 Abs 1 B-VG in Verwaltungsstrafsachen, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, die Bestimmungen des VStG, mit Ausnahme des fünften Abschnittes des II. Teiles, und des FinStrG, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem VwG vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte. Aufgrund des somit gem § 38 VwGVG iVm § 24 VStG anzuwendenden § 6 Abs 1 AVG hat das VwG seine sachliche und örtliche Zuständigkeit von Amts wegen wahrzunehmen. Gem der Judikatur des VwGH zu § 6 Abs 1 AVG ist von der Berufungsbehörde in jeder Lage des Verfahrens auch die Unzuständigkeit der Unterinstanz von Amts wegen wahrzunehmen.

 

Gemäß der Verweisungsbestimmung des § 38 VwGVG gilt im Verwaltungsstrafverfahren vor den Verwaltungsgerichten gem § 25 Abs 1 VStG das Amtswegigkeitsprinzip und gem § 25 Abs 2 VStG der Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit, wonach vom VwG von Amts wegen unabhängig von Parteivorbringen und -anträgen der wahre Sachverhalt durch Aufnahme der nötigen Beweise zu ermitteln ist. Betreffend die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte ist festzuhalten, dass gem Art 130 Abs 4 erster Satz B-VG (s auch § 50 VwGVG) in Verwaltungsstrafsachen das VwG immer in der Sache selbst entscheidet, woraus folgt, dass in Verwaltungsstrafverfahren dem VwG in jedem Fall auch die Befugnis und Verpflichtung zu allenfalls erforderlichen Sachverhaltsfeststellungen zukommt.

 

Der Vollständigkeit halber sei auch erwähnt, dass der VwGH bereits ausgesprochen hat, dass im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten gem § 17 VwGVG iVm § 39 Abs 2 AVG, auch außerhalb des Verwaltungsstrafverfahrens das Amtswegigkeitsprinzip gilt.

 

Die vom Landesverwaltungsgericht Oberösterreich im angefochtenen Erkenntnis vertretene Rechtsansicht, gegen die Geltung des Amtswegigkeitprinzips in einem gerichtlichen Strafverfahren bestünden "verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf (Art 90 Abs 2 B-VG sowie auf) Art 6 Abs 1 EMRK und Art 47 GRC" kann vom VwGH nicht nachvollzogen werden.

 

Die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts oder mindestens die Kontrolle durch unabhängige Instanzen (wenn der maßgebliche Sachverhalt bereits festgestellt wurde) ist im Anwendungsbereich des Art 6 EMRK und bei Geltendmachung gemeinschaftsrechtlicher (nunmehr unionsrechtlicher) Positionen geboten, weil nur so effektiver Rechtsschutz gewährleistet werden kann. Art 47 GRC bzw Art 6 EMRK stehen daher keinesfalls der Geltung des Amtswegigkeitsgrundsatzes entgegen.

 

Den Parteien wären insbesondere weiters gem § 38 VwGVG iVm § 24 VStG und § 45 Abs 3 AVG die Ergebnisse des bislang durchgeführten bzw durchzuführenden Ermittlungsverfahrens vorzuhalten und ihnen die Möglichkeit einzuräumen gewesen, dazu ein Vorbringen zu erstatten und Beweise für die eigenen Behauptungen anzubieten (Grundsatz der Wahrung des Parteiengehörs). Die Einräumung des Parteiengehörs ist ein wichtiges Element des fairen Verfahrens iSd Art 6 EMRK und damit auch Inhalt des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz.

 

Angemerkt sei, dass auch von einer Verletzung einer Mitwirkungspflicht der Partei nur dann auszugehen ist, wenn die oa Verfahrensschritte zur Gewährung des Parteiengehörs zuvor gesetzt worden sind.

 

In der Folge wären aufgrund eines erstatteten relevanten Parteienvorbringens und Beweisanbotes Ermittlungen durchzuführen und im angefochtenen Erkenntnis Feststellungen hiezu zu treffen gewesen.