OGH: Rückforderung zu Unrecht erbrachter Leistungen iSd § 107 ASVG (hier: iZm Krankengeldbezug gem § 138 ASVG während geringfügiger Beschäftigung gem § 5 Abs 2 ASVG)
Die Frage, ob der Versicherte den Bezug einer Leistung durch bewusst unwahre Angaben, bewusste Verschweigung maßgebender Tatsachen oder Verletzung der Meldevorschriften herbeigeführt hat oder er jedenfalls erkennen musste, dass die Leistung nicht oder nicht in dieser Höhe gebührte, kann nur nach den besonderen Umständen des Einzelfalls beantwortet werden
§ 107 ASVG, § 5 ASVG, § 138 ASVG
GZ 10 ObS 90/11z, 08.11.2011
OGH: Nach § 107 Abs 1 erster Satz ASVG hat der Versicherungsträger zu Unrecht erbrachte Geldleistungen zurückzufordern, wenn der Zahlungsempfänger bzw der Leistungsempfänger den Bezug durch bewusst unwahre Angaben, bewusste Verschweigung maßgebender Tatsachen oder Verletzung der Meldevorschriften herbeigeführt hat oder wenn der Zahlungsempfänger bzw der Leistungsempfänger erkennen musste, dass die Leistung nicht oder nicht in dieser Höhe gebührte.
Die ersten beiden in § 107 Abs 1 erster Satz ASVG genannten Tatbestände der bewusst unwahren Angaben (erster Fall) und des bewussten Verschweigens maßgebender Tatsachen (zweiter Fall) setzen nach stRsp zumindest bedingten Vorsatz (dolus eventualis) voraus. Das bewusste Verschweigen für Grund oder Höhe der Leistung maßgebender Tatsachen setzt also die Kenntnis eines rechtlich maßgeblichen Sachverhalts voraus. Insbesondere ist dieser Tatbestand dann erfüllt, wenn der Versicherungsträger durch die unwahren Angaben oder durch die Verschweigung maßgebender Tatsachen mit dem Ziel irregeführt wurde, die unrichtigen Angaben zur Grundlage seiner Entscheidung zu machen. Das bewusste Verschweigen maßgebender Tatsachen enthält auch eine subjektive Komponente. Dieser Rückforderungstatbestand könnte daher nur dann erfüllt sein, wenn sich die Klägerin überhaupt bewusst gewesen wäre, dass ihrer geringfügigen Beschäftigung eine für ihren Anspruch auf Krankengeld maßgebende Bedeutung zukommt. Für eine solche Annahme ergibt sich jedoch weder aus dem Prozessvorbringen der beklagten Partei noch aus den Beweisergebnissen ein Hinweis.
Der von der beklagten Partei weiters geltend gemachte Rückforderungstatbestand des § 107 Abs 1 vierter Fall ASVG (Erkennenmüssen eines unberechtigten Bezugs) ist nach stRsp dann erfüllt, wenn dem Leistungsempfänger bei einer ihm nach den Umständen des Einzelfalls zumutbaren Aufmerksamkeit auffallen musste, dass die Leistung nicht oder nicht in dieser Höhe gebührte, wobei weder der Grad der pflichtgemäßen Aufmerksamkeit überspannt (arg „erkennen musste“) noch - ganz allgemein - überdurchschnittliche geistige Fähigkeiten (arg „er erkennen musste“) verlangt werden dürfen. Bei Gewährung einer laufenden Leistung wird es in der Regel genügen, wenn der Empfänger ernstlich die Möglichkeit in Betracht ziehen hätte müssen, dass ihm die Leistung zu Unrecht gewährt wird.
Der OGH hat bereits mehrfach ausgesprochen, dass die Frage, ob der Versicherte den Bezug einer Leistung durch bewusst unwahre Angaben, bewusste Verschweigung maßgebender Tatsachen oder Verletzung der Meldevorschriften herbeigeführt hat oder er jedenfalls erkennen musste, dass die Leistung nicht oder nicht in dieser Höhe gebührte, nur nach den besonderen Umständen des Einzelfalls beantwortet werden kann.
Ohne besondere Belehrung kann von einem juristischen Laien nicht erwartet werden, dass er die nach Rechtsansicht der beklagten Partei bestehende Ungebührlichkeit eines Krankengeldbezugs bei gleichzeitiger Ausübung einer geringfügigen Beschäftigung erkennt, zumal auch die entsprechenden Bestimmungen des ASVG (§§ 138, 142 f ASVG) keinen diesbezüglichen Ausschluss- oder Ruhenstatbestand vorsehen und die von der beklagten Partei vertretene Rechtsansicht auch von den Vorinstanzen nicht geteilt wurde.
Die Beurteilung des Berufungsgerichts, im vorliegenden Fall seien (auch) die Voraussetzungen für eine Rückforderung des von der Klägerin bezogenen Krankengeldes nach § 107 Abs 1 ASVG nicht erfüllt, ist daher nicht zu beanstanden. Damit erübrigt sich aber ein Eingehen auf die vom Berufungsgericht als erheblich angesehene Rechtsfrage, ob das Krankengeld von der Klägerin im Hinblick auf ihre gleichzeitig ausgeübte geringfügige Beschäftigung (§ 5 Abs 2 ASVG) überhaupt zu Unrecht bezogen wurde. Selbst wenn man in dieser Frage der Rechtsansicht der beklagten Partei folgt, kommt eine Rückforderung des an die Klägerin bereits ausbezahlten Krankengeldes mangels Vorliegens eines Rückforderungstatbestands nach § 107 Abs 1 ASVG nicht in Betracht.