EuGH: Rechte von Flugreisenden – Rs C-83/10 vom 13. Oktober 2011
Im Fall der Annullierung eines Flugs können die Fluggäste unter bestimmten Voraussetzungen neben der ihnen gewährten Ausgleichsleistung für den materiellen Schaden auch eine Entschädigung für den immateriellen Schaden verlangen; außerdem kann ein Fluggast die Entschädigung für die Annullierung eines Flugs in Anspruch nehmen, wenn sein Flugzeug gestartet ist, aber anschließend, aus welchen Gründen auch immer, zum Ausgangsflughafen zurückkehren musste, und dieser Fluggast auf einen anderen Flug umgebucht wurde
Urteil in der Rechtssache C-83/10, 13. Oktober 2011
Aurora Sousa Rodríguez u. a. / Air France SA
Die Verordnung über Ausgleichsleistungen für Fluggäste schreibt standardisierte Maßnahmen vor, die die Fluggesellschaften gegenüber ihren Fluggästen im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen ergreifen müssen. Die Verordnung gilt aber unbeschadet eines weiter gehenden Schadenersatzanspruchs des Fluggastes. Daher kann die nach der Verordnung gewährte Ausgleichsleistung auf einen etwaigen weiter gehenden Schadenersatzanspruch der Fluggäste angerechnet werden.
Zu den in der Verordnung vorgesehenen standardisierten Maßnahmen im Fall der Annullierung eines Flugs gehören die Erstattung der Flugscheinkosten und die anderweitige Beförderung der Fluggäste. Außerdem muss ihnen die Fluggesellschaft während der Wartezeit auf einen späteren Flug angemessene Betreuungsleistungen anbieten (zB eine Unterbringung sowie die Möglichkeit, Mahlzeiten einzunehmen und Telefongespräche zu führen). Schließlich haben die Fluggäste im Fall der Annullierung des Flugs ohne oder mit einer sehr kurzen Vorankündigung auch Anspruch auf eine entfernungsabhängige pauschale Ausgleichszahlung, sofern keine außergewöhnlichen Umstände vorliegen.
Parallel dazu werden im Übereinkommen von Montreal die Voraussetzungen festgelegt, unter denen die Fluggäste wegen der Annullierung eines Flugs als individualisierte Wiedergutmachung Ansprüche auf Schadenersatz gegen die Luftfahrtunternehmen geltend machen können. Insbesondere haftet das Luftfahrtunternehmen nach diesem Übereinkommen im Fall einer Annullierung nur bis zu einem Betrag von 4 150 Sonderziehungsrechten je Reisenden.
EuGH: In seinem Urteil erläutert der Gerichtshof erstens seine Auslegung des Begriffs „Annullierung“ dahin, dass er nicht ausschließlich den Fall betrifft, dass das betreffende Flugzeug überhaupt nicht startet. Der Begriff umfasst auch den Fall, dass ein Flugzeug gestartet ist, aber anschließend, aus welchen Gründen auch immer, zum Ausgangsflughafen zurückkehren musste, und die Fluggäste auf andere Flüge umgebucht wurden.
Ist der Abflug erfolgt, das Flugzeug aber danach zum Ausgangsflughafen zurückgekehrt, ohne den nach der Flugroute vorgesehenen Bestimmungsort erreicht zu haben, so hat dies zur Folge, dass der Flug in seiner ursprünglich vorgesehenen Form nicht als durchgeführt betrachtet werden kann.
Weiters führt der Gerichtshof aus, dass bei der Prüfung, ob eine „Annullierung“ vorliegt, auf die individuelle Situation jedes beförderten Fluggasts abzustellen ist, dh, es ist zu prüfen, ob in Bezug auf den betreffenden Fluggast die ursprüngliche Planung des Flugs aufgegeben wurde. Dabei liegt eine Annullierung des Flugs nicht nur dann vor, wenn alle Fluggäste, die den ursprünglich geplanten Flug gebucht hatten, mit einem anderen Flug befördert wurden.
Aus der Tatsache, dass die sieben Fluggäste im vorliegenden Fall ihr Endziel (Vigo) nach Umbuchung auf andere, für den Folgetag des vorgesehenen Abflugtags geplante Flüge erreichten, folgert der Gerichtshof, dass „ihr“ jeweiliger ursprünglich geplanter Flug als „annulliert“ einzustufen ist.
Zweitens stellt der Gerichtshof klar, dass der Begriff „weiter gehender Schadenersatz“ es dem nationalen Gericht ermöglicht, Ersatz für den wegen der Nichterfüllung des Luftbeförderungsvertrags entstandenen immateriellen Schaden zu gewähren, und zwar unter den Voraussetzungen des Übereinkommens von Montreal oder des nationalen Rechts.
Der „weiter gehende Schadenersatz“ soll die Durchführung der in der Verordnung Nr 261/2004 vorgesehenen standardisierten und sofortigen Maßnahmen ergänzen. Demnach kann den Fluggästen aufgrund dieses „weiter gehenden Schadenersatzes“ der gesamte materielle und immaterielle Schaden, der ihnen durch die Verletzung der vertraglichen Pflichten des Luftfahrtunternehmens entstanden ist, ersetzt werden, und zwar unter den Voraussetzungen und Grenzen des Übereinkommens von Montreal oder des nationalen Rechts.
Drittens fügt der Gerichtshof hinzu, dass die Fluggäste, wenn ein Luftfahrtunternehmen die ihm nach der Verordnung obliegenden Unterstützungspflichten (Erstattung der Flugscheinkosten oder anderweitige Beförderung zum Endziel, Tragung der Kosten für die Beförderung des Fluggasts von einem anderen Flughafen zu dem ursprünglich vorgesehenen Zielflughafen) und Betreuungspflichten (Verpflegungs-, Unterbringungs- und Kommunikationskosten) verletzt, berechtigt sind, einen Ausgleichsanspruch geltend zu machen. Diese Ansprüche können jedoch, da sie sich unmittelbar aus der Verordnung ergeben, nicht als „weiter gehender“ Schadenersatz angesehen werden.