EuGH: Umfang des Schutzes von Arbeitnehmerrechten bei einem Übergang auf einen neuen Arbeitgeber – Rs C-108/10 vom 6. September 2011
Das Unionsrecht lässt es, wenn ein Übergang zur sofortigen Anwendung des beim Erwerber geltenden Kollektivvertrags auf die übergegangenen Arbeitnehmer führt und die in diesem Vertrag vorgesehenen Lohn- und Gehaltsbedingungen insbesondere mit dem Dienstalter verknüpft sind, nicht zu, dass diese Arbeitnehmer erhebliche Kürzungen ihres Arbeitsentgelts im Vergleich zu ihrer Lage unmittelbar vor dem Übergang hinnehmen müssen, weil ihr beim Veräußerer erreichtes Dienstalter, das dem Dienstalter entspricht, das die beim Erwerber beschäftigten Arbeitnehmer erworben haben, bei der Bestimmung ihres Anfangsgehalts beim Erwerber nicht berücksichtigt wird
Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-108/10, 6. September 2011
Scattolon
EuGH: Nach den Unionsvorschriften über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer bei Unternehmensübergängen gehen die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus einem zum Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsvertrag oder Arbeitsverhältnis auf Grund des Übergangs auf den Erwerber über. Zudem erhält der Erwerber die in einem Kollektivvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen bis zu der Kündigung oder dem Ablauf des Kollektivvertrags bzw bis zum Inkrafttreten oder bis zu der Anwendung eines anderen Kollektivvertrags in dem gleichen Maße aufrecht, wie sie in dem Kollektivvertrag für den Veräußerer vorgesehen waren.
Die Übernahme des bei einer Behörde eines Mitgliedstaats beschäftigten Personals, das mit der Erbringung von Hilfsdiensten an Schulen – darunter insbesondere der Instandhaltung und Hilfstätigkeiten in der Verwaltung – betraut ist, durch eine andere Behörde stellt einen „Unternehmensübergang“ dar, wenn dieses Personal aus einer strukturierten Gesamtheit von Beschäftigten besteht, die als Arbeitnehmer nach dem innerstaatlichen Recht dieses Mitgliedstaats geschützt sind.
Was sodann die Berechnung des Arbeitsentgelts der von einem Übergang betroffenen Arbeitnehmer betrifft, darf der Erwerber zwar ab dem Zeitpunkt des Übergangs die von dem bei ihm geltenden Kollektivvertrag vorgesehenen Arbeitsbedingungen – einschließlich derjenigen über das Arbeitsentgelt – anwenden, die gewählten Modalitäten einer solchen Integration der übergegangenen Arbeitnehmer in die Lohn- und Gehaltsstruktur müssen jedoch mit dem Ziel der Unionsvorschriften über den Schutz der Rechte übergegangener Arbeitnehmer vereinbar sein, das im Wesentlichen darin besteht, zu verhindern, dass sich die Lage der übergegangenen Arbeitnehmer allein aufgrund dieses Übergangs gegenüber der Lage verschlechtert, in der sie sich vor dem Übergang befanden.
Im vorliegenden Fall hat das Ministerium, anstatt das Dienstalter als solches in vollem Umfang anzuerkennen, für jeden übergegangenen Arbeitnehmer ein „fiktives“ Dienstalter berechnet, was für die Festsetzung der künftigen Lohn- und Gehaltsbedingungen des übergegangenen Personals eine entscheidende Rolle gespielt hat. Da die vor dem Übergang vom ATA-Personal der lokalen Gebietskörperschaften in den Schulen ausgeführten Arbeiten denen entsprachen, die das beim Ministerium beschäftigte ATA-Personal ausführte, oder mit diesen sogar identisch waren, hätte das beim Veräußerer erreichte Dienstalter eines Mitglieds des übergegangenen Personals in gleicher Höhe festgesetzt werden können wie das Dienstalter, das ein Mitglied des vor dem Übergang beim Ministerium beschäftigten ATA-Personals mit gleichem Profil erworben hatte.
Daher gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass das Unionsrecht, wenn ein Übergang zur sofortigen Anwendung des beim Erwerber geltenden Kollektivvertrags auf die übergegangenen Arbeitnehmer führt und die in diesem Vertrag vorgesehenen Lohn- und Gehaltsbedingungen insbesondere mit dem Dienstalter verknüpft sind, nicht zulässt, dass diese Arbeitnehmer erhebliche Kürzungen ihres Arbeitsentgelts im Vergleich zu ihrer Lage unmittelbar vor dem Übergang hinnehmen müssen, weil ihr beim Veräußerer erreichtes Dienstalter, das dem Dienstalter entspricht, das die beim Erwerber beschäftigten Arbeitnehmer erworben haben, bei der Bestimmung ihres Anfangsgehalts beim Erwerber nicht berücksichtigt wird. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob es bei dem Übergang im Ausgangsverfahren zu einer derartigen Kürzung des Arbeitsentgelts gekommen ist.