VwGH: WaffGG und Art 2 EMRK - zur Verhältnismäßigkeit des Waffengebrauchs
Darstellung der EGMR-Rsp zum polizeilichen Schusswaffengebrauch iZm Art 2 EMRK
§§ 4 ff WaffGG, Art 2 EMRK
GZ 2006/01/0083, 18.11.2010
VwGH: Gem den Bestimmungen der §§ 4 bis 6 WaffGG ist der Waffengebrauch nur zulässig, wenn keine geeigneten ungefährlichen oder weniger gefährlichen Maßnahmen zur Verfügung stehen. Stehen verschiedene Waffen zur Verfügung, darf nur die am wenigsten gefährliche, nach Lage des Falles noch geeignet scheinende Waffe zum Einsatz kommen. Jede Waffe ist mit möglichster Schonung von Menschen und Sachen zu gebrauchen. Außer im Falle der Notwehr darf der durch den Waffengebrauch zu erwartende Schaden nicht offensichtlich außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Erfolg stehen. Gegen Menschen dürfen Waffen nur angewendet werden, wenn der Zweck ihrer Anwendung nicht durch Waffenwirkung gegen Sachen erreicht werden kann. Zweck des Waffengebrauches gegen Menschen darf nur sein, angriffs-, widerstands- oder fluchtunfähig zu machen.
Der solcherart normierte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist vor dem Hintergrund verfassungsgesetzlicher Vorgaben - im Bereich des lebensgefährdenden Waffengebrauchs insbesondere Art 2 EMRK - zu sehen.
Der EGMR hatte sich bereits mehrfach mit der Frage zu befassen, in welchen Fällen polizeilicher Schusswaffengebrauch eine Verletzung des Rechts auf Leben gem Art 2 EMRK darstellt. Im Fall Wasilewska und Kalucka (Urteil vom 23. Februar 2010, Nr 28975/04 und 33406/04) hat der EGMR seine diesbezügliche Rsp wie folgt zusammengefasst: Bei Art 2 EMRK handle es sich um eine der grundlegendsten Bestimmungen der Konvention, die einen der wesentlichen Grundwerte derjenigen demokratischen Gesellschaften, die den Europarat bilden, beinhalte. Behauptungen einer Verletzung dieser Bestimmung müssten mit äußerster Sorgfalt untersucht werden. In Fällen der Gewaltanwendung durch staatliche Organe komme es nicht nur auf das Verhalten derjenigen Personen an, die die Gewalt angewendet haben, sondern auch auf die Begleitumstände einschließlich der bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen und der Planung und Kontrolle der fraglichen Operation.
Der Schutzumfang des Art 2 EMRK umfasse nicht nur Fälle absichtlicher Tötung, sondern auch Situationen, in denen in zulässiger Weise Gewalt angewendet werde und es - als unbeabsichtigte Folge - zur Tötung von Menschen komme. Die Frage, ob lebensgefährdende Gewalt absichtlich eingesetzt wurde, sei aber nur ein Faktor bei der Beurteilung ihrer Notwendigkeit. Jede Gewaltanwendung müsse unbedingt erforderlich ("absolutely necessary") sein, um einen oder mehrere der Zwecke, die in Art 2 Abs 2 lit a bis c EMRK genannt sind, zu erreichen. Aus dem Begriff der "unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung" ergebe sich eine strengere Verhältnismäßigkeitsprüfung als in denjenigen Fällen, in denen staatliche Handlungen auf ihre Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft gem den Absätzen 2 der Art 8 bis 11 EMRK zu prüfen sind. Insbesondere müsse die eingesetzte Gewalt streng proportional zum Erreichen des zulässigen Ziels sein. Der Einsatz von Gewalt durch staatliche Organe zur Erreichung eines der Ziele des Art 2 Abs 2 EMRK sei dann gerechtfertigt, wenn gute Gründe für das Vorliegen der genannten Voraussetzungen sprechen würden und diese Annahme auf ehrlicher Überzeugung beruhe, selbst wenn sie sich nachträglich als falsch herausstelle. Eine andere Sichtweise würde den staatlichen Organen bei der Ausübung ihrer Pflichten eine unrealistische Last auferlegen, dies - möglicherweise - auf Kosten ihres Lebens und des Lebens anderer.
Grundsätzlich könne eine Notwendigkeit, lebensgefährdende Gewalt einzusetzen, nicht angenommen werden, wenn bekannt sei, dass die festzunehmende Person keine Gefahr für Leib oder Leben darstelle und nicht verdächtigt werde, eine gewalttätige Straftat begangen zu haben, selbst wenn die Unterlassung des Einsatzes lebensgefährdender Gewalt den Verlust einer Gelegenheit zur Festnahme bedeute. Das legitime Ziel der Durchführung einer ordnungsgemäßen Festnahme nach Art 2 Abs 2 lit b EMRK könne die Gefahr, Menschenleben zu gefährden, somit nur in Situationen absoluter Notwendigkeit rechtfertigen.
Art 2 EMRK beinhalte weiters eine Verpflichtung des Staates, einen angemessenen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, der die Fälle, in denen Vollzugsorgane Gewalt und Schusswaffen einsetzen dürfen, unter Berücksichtigung internationaler Standards festlegt. In Übereinstimmung mit dem Prinzip strikter Verhältnismäßigkeit, der Art 2 EMRK innewohne, müsse der nationale gesetzliche Rahmen für Festnahmen den Schusswaffengebrauch an eine genaue Beurteilung der Begleitumstände und insbesondere an eine Einschätzung der Art des Delikts, das der Flüchtende begangen habe, und der Gefahr, die von ihm ausgehe, binden. Zwar zeige der Wortlaut des Art 2 EMRK, dass der Einsatz lebensgefährdender Gewalt durch Polizisten in gewissen Situationen gerechtfertigt sein könne; nichtsdestotrotz gewähre Art 2 EMRK keinen Freibrief ("carte blanche"). Unkontrollierte und willkürliche Handlungen durch staatliche Organe seien unvereinbar mit einer effektiven Achtung der Menschenrechte. Polizeiaktionen müssten nicht nur auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, sondern durch diese auch ausreichend reguliert sein, dies innerhalb eines Systems angemessener und effektiver Kontrollmechanismen gegen Willkür und Missbrauch von Gewalt. Bei der Beurteilung, ob die eingesetzte Gewalt mit Art 2 EMRK vereinbar ist, sei es daher von Bedeutung, ob die Operation in einer Weise geplant und kontrolliert wurde, dass der Einsatz lebensgefährdender Gewalt soweit als möglich reduziert bzw der unbeabsichtigte Verlust von Menschenleben im größtmöglichen Ausmaß verhindert worden sei. Weiters müsse das nationale Gesetz, das Polizeiaktionen regle, ein angemessenes und effektives Kontrollsystem gegen Willkür, missbräuchliche Gewalt und vermeidbare Unfälle sicherstellen. Insbesondere müssten Vollzugsorgane ausgebildet werden zu beurteilen, ob eine absolute Notwendigkeit des Einsatzes von Schusswaffen bestehe, dies nicht nur anhand des Wortlauts der relevanten Regelungen, sondern auch unter Berücksichtigung der herausragenden Stellung der Achtung menschlichen Lebens als Grundwert.
Davon ausgehend sei nicht nur zu prüfen, ob der Einsatz lebensgefährdender Gewalt im Einzelfall zulässig gewesen sei, sondern auch, ob die jeweilige Operation in einer Weise geplant und organisiert worden sei, um das Risiko für das Leben des Betreffenden im größtmöglichen Ausmaß zu minimieren.
Zur Verhältnismäßigkeitsprüfung der belangten Behörde:
Die belangte Behörde geht davon aus, dass es zum lebensgefährdenden Schusswaffengebrauch keine realistische Alternative gegeben habe. Diese Annahme stützt sie - in den Feststellungen - darauf, dass in Kenntnis des (präsumtiven) weiteren Verlaufes der Fluchtfahrt keine (aus der Gegenrichtung kommende) Unterstützung zu erwarten war und sich nur "stadtseitig weitere nachkommende Streifenwagen" befanden. Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung führt sie weiters aus, es könne der Bundespolizeidirektion Wien kein Vorwurf gemacht werden, dass sie nicht schon am Stadtrand Streifen postiert und Hindernisse errichtet habe, um den Flüchtenden aus der entgegenkommenden Richtung aufhalten zu können, zumal die Fluchtdauer und Fluchtrichtung nicht exakt vorhergesehen habe werden können.
Diese Beurteilung greift nach Ansicht des VwGH vor dem Hintergrund der Rsp des EGMR zu kurz. Dem angefochtenen Bescheid lassen sich keine Feststellungen zur Frage entnehmen, ob die Durchführung des vorliegenden Einsatzes auf ausreichender Planung beruht hat. Denn auch bei an sich ungeplanten Einsätzen ist organisatorisch darauf zu achten, dass der lebensgefährdende Waffeneinsatz als letzte Möglichkeit zur Erreichung des angestrebten Zieles eingesetzt wird. Dafür sind aber Ermittlungen bei der Bundespolizeidirektion Wien als im Maßnahmenbeschwerdeverfahren belangte Behörde erforderlich. So lassen sich dem angefochtenen Bescheid keine Feststellungen dahin entnehmen, welche Einsatzkräfte der Bundespolizeidirektion Wien im fraglichen Zeitraum und im Nahebereich zur Fluchtroute überhaupt zur Verfügung gestanden wären, um etwa ein - von der belangten Behörde theoretisch als mögliches Alternativverhalten in Betracht gezogenes - Aufhalten mittels Straßensperren in jenem Bereich, den die einschreitenden Polizisten selbst als zu erwartende weitere Fluchtroute angenommen haben, beurteilen zu können.
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Feststellungen zur konkreten Abwicklung des Einsatzes iSe Koordinierung der zur Verfügung stehenden Polizeikräfte nicht getroffen wurden. Dem insoweit von der belangten Behörde verwerteten Funkprotokoll ist zu entnehmen, dass bis zum Waffengebrauch zumindest sechs Polizeifahrzeuge per Funk in den Einsatz eingebunden waren, wobei diese offenbar teils durch Anweisungen der Funkstelle, teils aufgrund eigener Einschätzung ihre Position eingenommen haben; aus dem vorgelegten Verwaltungsakt ergibt sich, dass überdies drei weitere Polizeistreifen in den Einsatz eingebunden waren. Zur Frage, ob der Bundespolizeidirektion Wien für derartige Einsätze Einsatzpläne vorlagen, und ob ausgehend davon bei Koordinierung der vorhandenen Kräfte durch eine zentrale Einsatzleitung eine alternative Form der Beendigung der Fluchtfahrt möglich gewesen wäre, hat die belangte Behörde weder Ermittlungen gepflogen noch Feststellungen getroffen.