24.06.2009 Arbeitsrecht

VwGH: Ist es zulässig, eine Person, deren Behinderung mindestens 50% beträgt, hinsichtlich des Kündigungsschutzes gegenüber in vergleichbarem Ausmaß behinderten EWR-Bürgern nur deshalb schlechter zu stellen, weil sie türkischer Staatsangehöriger ist?

§ 2 Abs 1 BEinstG ist - vor dem Hintergrund des Gemeinschaftsrechts - in der Weise anzuwenden, dass auch türkische Staatsangehörige, sofern sie die Voraussetzungen des Art 10 Abs 1 ARB Nr 1/80 erfüllen, unter den sonstigen Voraussetzungen des § 2 Abs 1 BEinstG dem Kreis der begünstigten Behinderten angehören


Schlagworte: Behinderteneinstellungsrecht, Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten, Kündigungsschutz, türkischer Staatsangehöriger
Gesetze:

§ 2 BEinstG, § 8 BEinstG, Art 10 Abs 1 ARB Nr 1/80, Art 39 EGV

GZ 2006/11/0039, 14.05.2009

VwGH: Zunächst ist festzuhalten, dass der Gesetzgeber in mehreren Bestimmungen des BEinstG an die Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der "begünstigten Behinderten" (die ua eine Behinderung von mindestens 50% voraussetzt) in unterschiedlicher Weise anknüpft (so etwa bei der Einstellungspflicht gem § 1 leg cit, beim Gebot der Rücksichtnahme bzw Förderungsmaßnahmen gem § 6 oder insbesondere bei dem vom Bf angesprochenen Erfordernis der Zustimmung der Behörde bei einer Kündigung iSd § 8 BEinstG). Dies hatte die belangte Behörde offensichtlich vor Augen, wenn sie den angefochtenen Bescheid sinngemäß damit begründete, der Bf würde im Falle seiner Anerkennung als begünstigter Behinderter nicht nur den Vorteil der arbeitsrechtlichen Kündigungsbeschränkung erlangen, sondern gleichzeitig auch Vorteile aus nicht unwesentlichen sozialrechtlichen Aspekten des BEinstG ziehen.

Der Bf ist unstrittig türkischer Staatsangehöriger. Im angefochtenen Bescheid finden sich jedoch keinerlei Feststellungen zur Frage, ob der Bf dem regulären Arbeitsmarkt angehört und damit dem persönlichen Geltungsbereich des Art 10 Abs 1 ARB Nr 1/80 unterliegt. Diesbezügliche Ermittlungen hat die belangte Behörde offenbar deshalb nicht angestellt, weil sie - in unrichtiger Beurteilung der Rechtslage - davon ausging, das Diskriminierungsverbot des Art 10 Abs 1 ARB Nr 1/80 habe im gegenständlichen Verfahren betreffend die Feststellung der Zugehörigkeit des Bf zum Kreis der begünstigten Behinderten keine Bedeutung.

Die belangte Behörde übersieht dabei jedoch, dass § 2 Abs 1 BEinstG - vor dem Hintergrund des Gemeinschaftsrechts - in der Weise anzuwenden ist, dass auch türkische Staatsangehörige, sofern sie die Voraussetzungen des Art 10 Abs 1 ARB Nr 1/80 erfüllen, unter den sonstigen Voraussetzungen des § 2 Abs 1 BEinstG dem Kreis der begünstigten Behinderten angehören.

Vor allem der Kündigungsschutz gem § 8 Abs 2 BEinstG (Kündigung nur mit Zustimmung der Behörde) ist von der Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten abhängig. Wäre dem türkischen Staatsangehörigen trotz seiner Behinderung allein wegen seiner Staatsangehörigkeit diese Feststellung verwehrt, so wäre er gegenüber Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten mit entsprechender Behinderung zweifellos schlechter gestellt. Der EuGH hat aber einerseits ausgesprochen, dass Art 7 der Verordnung 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 (diese Bestimmung verbietet eine Ungleichbehandlung von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten - ausdrücklich - auch hinsichtlich der Bedingungen der Kündigung) eine Konkretisierung des ua in Art 39 Abs 2 EGV verankerten "fundamentalen Verbotes der Diskriminierung" darstellt, sodass Art 7 der Verordnung 1612/68 für die Auslegung des Begriffes der "sonstigen Arbeitsbedingungen" iSv Art 39 Abs 2 EGV heranzuziehen ist, wobei diesem Begriff ein weiter Anwendungsbereich zuzuerkennen sei. Der EuGH hat andererseits ausgeführt, dass Art 10 Abs 1 ARB Nr 1/80 den Arbeitnehmern türkischer Staatsangehörigkeit, die rechtmäßig in einem Mitgliedstaat beschäftigt sind, ein Recht auf Gleichbehandlung hinsichtlich des Arbeitsentgeltes und sonstiger Arbeitsbedingungen im gleichen Umfang zukommt, wie es gem Art 39 Abs 2 EGV den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zusteht.

Aus der Rechtsprechung des EuGH folgt somit eindeutig und ohne Zweifel, dass Arbeitnehmer türkischer Staatsangehörigkeit, die rechtmäßig in einem Mitgliedstaat beschäftigt sind, auch hinsichtlich der Bedingungen der Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses nicht schlechter gestellt werden dürfen, als Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften. Da der Bf eine solche Gleichstellung gegenständlich nur im Wege der Feststellung seiner Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten erreichen kann, hätte die belangte Behörde das Ansuchen des Bf nicht ohne weiteres abweisen dürfen, sondern feststellen müssen, ob er dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehört und sich daher auf das Diskriminierungsverbot des Art 10 Abs 1 ARB Nr 1/80 berufen kann. Bejahendenfalls hätte die belangte Behörde beurteilen müssen, ob der Bf einen Grad der Behinderung von 50% oder mehr aufweist.