17.02.2011 Zivilrecht

OGH: § 8 Abs 1 StEG - zur Frage, wann die Verjährungsfrist für Vertretungskosten vor dem EGMR beginnt

Die Kenntnis eines die Verletzung der Konvention feststellenden Urteils ist nicht der Kenntnis der anspruchsbegründenden Voraussetzungen iSd § 8 Abs 1 StEG gleichzusetzen; das die Verletzung feststellende Urteil des EGMR bedarf der innerstaatlichen Umsetzung um den konventionswidrigen Einzelakt zu beseitigen; diese Umsetzung erfolgt im Erneuerungsverfahren; führte dieses zum Freispruch oder sonst zur Außer-Verfolgung-Setzung des Geschädigten oder wird im Fall einer neuerlichen Verurteilung eine mildere Strafe verhängt oder entfällt eine vorbeugende Maßnahme oder wird diese doch durch eine weniger belastende Maßnahme ersetzt, liegen in der Regel die anspruchsbegründenden Voraussetzungen iSd § 8 Abs 1 StEG vor, deren Kenntnis die Verjährung in Gang setzt


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Haftentschädigung, Ersatzanspruch, Beginn der Verjährungsfrist, EGMR, notwendige und zweckentsprechende Kosten
Gesetze:

§ 8 Abs 1 StEG, § 1 Abs 1 StEG, § 2 Abs 1 Z 3 StEG

GZ 1 Ob 204/10x, 15.12.2010

Gegen die Verurteilung (§ 209 StGB aF) erhob der Kläger Beschwerde beim EGMR. Mit Urteil vom 19. Jänner 2006 stellte der EGMR eine Verletzung der Konvention durch die Verurteilung des Klägers fest und sprach diesem 35.000 EUR an Schmerzengeld und 8.851,10 EUR an Kosten zu. Davon widmete der Gerichtshof 5.851,10 EUR auf die in Österreich entstandenen Verteidigungskosten und 3.000 EUR auf die Vertretungskosten vor dem EGMR.

OGH: Das innerstaatliche Instrument zur Umsetzung von EGMR-Urteilen im Strafverfahren ist die Erneuerung desselben nach den §§ 363a-c StPO. Nach Feststellung einer Verletzung der EMRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle erfolgt über Antrag die Aufhebung der rechtskräftigen Entscheidung durch Erneuerung des Strafverfahrens gem § 363a StPO.

Anders als nach dem AHG und auch nach § 1489 ABGB ist im strafrechtlichen Entschädigungsrecht für die Verjährung der Ansprüche des Geschädigten nicht die Kenntnis des Schadens, sondern die Kenntnis der anspruchsbegründenden Voraussetzungen bedeutsam. Nach den Materialien zum StEG 2005 liegt der Grund für diese Abweichung gegenüber dem ABGB und dem AHG gerade im Entschädigungsgrund der Wiederaufnahme nach § 2 Abs 1 Z 3 StEG. Bei Ansprüchen aufgrund einer zunächst rechtskräftigen Verurteilung mit einer nachträglichen Einstellung bzw milderen Verurteilung wäre der Geschädigte - würde man hier allein auf die Kenntnis des Schadens (und der Person des Schädigers) abstellen - häufig nicht in der Lage, sein Ersatzbegehren zeitgerecht zu stellen. Die Materialien machen deutlich, dass § 8 Abs 1 StEG für den Beginn der Verjährungsfrist auf einen späteren Zeitpunkt abstellt, als es mitunter der Kenntnis von Schaden und Schädiger entsprechen würde.

Das die Konventionsverletzung feststellende Erkenntnis des EGMR vom 19. Jänner 2006 begründete keine innerstaatliche Wirkung sondern löste gem Art 46 EMRK (nur) die Verpflichtung Österreichs zur Umsetzung aus. Solange das konventionswidrige Urteil nicht im Erneuerungsverfahren aufgehoben war, blieb es aufrecht. Ein rechtskräftiges innerstaatliches Urteil, mag dessen EMRK-Widrigkeit auch festgestellt sein, steht bis zu seiner Aufhebung im Erneuerungsverfahren einem Anspruch nach § 1 Abs 1 StEG entgegen.

Für die Entstehung eines Ersatzanspruchs nach § 1 Abs 1 StEG ist nach § 2 Abs 1 Z 3 StEG nicht nur die Aufhebung des rechtskräftigen Urteils sondern auch die nachträgliche Einstellung des Verfahrens, der Freispruch des Verurteilten oder die Verhängung einer milderen Strafe oder vorbeugende Maßnahme erforderlich. Erst wenn einem Geschädigten alle Umstände bekannt sind, die für das Entstehen des Ersatzanspruchs gefordert sind, kann davon gesprochen werden, dass die Kenntnis der anspruchsbegründenden Voraussetzungen iSd § 8 Abs 1 StEG vorliegt. Diese Kenntnis ist also regelmäßig mit Zugang der für die Anspruchsbegründung geforderten gerichtlichen Entscheidung gegeben. Dass die Verjährung nicht zu laufen beginnt, bevor der Anspruch überhaupt erst geltend gemacht werden kann, entspricht auch dem aus § 1478 Satz 2 ABGB abgeleiteten Grundsatz, dass der Beginn der Verjährungsfrist an die objektive Möglichkeit der Rechtsausübung geknüpft ist. Die Verjährung beginnt demnach regelmäßig erst mit dem Zeitpunkt zu laufen, in welchem das Recht zuerst ausgeübt werden hätte können, der Geltendmachung des Anspruchs also keine rechtlichen Hindernisse mehr entgegenstehen.

Unstrittig ist, dass der Kläger den Beschluss vom 22. Jänner 2007, mit dem das gegen ihn geführte Strafverfahren nach § 227 StPO eingestellt wurde, am 27. Jänner 2007 erhalten hat. Dadurch erfuhr er von seiner Außer-Verfolgung-Setzung und erlangte damit vollständige Kenntnis der anspruchsbegründenden Voraussetzungen iSd § 8 Abs 1 StEG. Die am 4. November 2009 eingebrachte Klage war daher jedenfalls fristwahrend.

Der Kläger hat Anspruch auf Ersatz der zur Aufhebung der Anhaltung und zur Beseitigung der rechtskräftigen Verurteilung notwendigen und zweckentsprechenden Kosten. Davon erfasst sind auch die Kosten vor dem EGMR. Dieser entscheidet über den Ersatz der Kosten und Auslagen allein nach billigem Ermessen und berücksichtigt innerstaatliche Gebührenansätze nur als Anhaltspunkt für seine Entscheidung mit. Da dieser Gerichtshof seiner Entscheidung über die Kosten grundsätzlich kein vom Ermessen unabhängiges Kostenersatzrecht zugrunde legt, steht dem geschädigten Kläger die Differenz zwischen den vom EGMR zuerkannten und den zur notwendigen und zweckentsprechenden Rechtsverfolgung aufgewendeten Kosten zu. Gleiches gilt für die vom Kläger geltend gemachten restlichen Kosten seiner Vertretung im innerstaatlichen Verfahren vor dem Erneuerungsverfahren, sodass auch hier auf die Differenz zu den zur notwendigen und zweckentsprechenden Rechtsverfolgung aufgewendeten Kosten abzustellen ist.