OGH: Bauwerkehaftung nach § 1319 ABGB und Wegehalterhaftung nach § 1319a ABGB
§ 1319a ABGB verdrängt als speziellere Norm § 1319 ABGB, wenn der Wegehalter gleichzeitig als Besitzer einer im Zuge des Wegs befindlichen Anlage zu werten ist
§ 1319 ABGB, § 1319a ABGB
GZ 2 Ob 256/09z, 27.05.2010
OGH: Nach der neueren Rsp des OGH verdrängt § 1319a ABGB als speziellere Norm § 1319 ABGB, wenn der Wegehalter gleichzeitig als Besitzer einer im Zuge des Wegs befindlichen Anlage zu werten ist. Dies gilt nur dann nicht, wenn ein besonderes Interesse des Wegehalters an der betreffenden Anlage (dem "Werk") besteht. Als "im Zuge des Wegs befindliche Anlagen" sind Anlagen iSd § 1319a Abs 2 ABGB zu verstehen (demnach insbesondere Brücken, Stützmauern, Futtermauern, Durchlässe, Gräben oder Pflanzungen), also solche, die dem Verkehr auf dem Weg dienen. Ist ein auf einem Weg aufgeführtes Werk iSd § 1319 ABGB nicht zugleich auch Anlage iSd § 1319a ABGB, so bleibt auch nach der neueren Rsp die Anspruchskonkurrenz zwischen diesen beiden Bestimmungen grundsätzlich (weiterhin) bestehen.
Ein in einer Fußgängerzone aufgestellter Plakatständer fördert nicht die bessere Benützbarkeit dieser Verkehrsfläche. Er dient nicht dem Fußgängerverkehr, sondern behindert ihn und ist somit auch nicht als "im Zuge des Wegs befindliche Anlage" iSd § 1319a Abs 2 ABGB zu qualifizieren. Die vom Berufungsgericht iZm der Anspruchskonkurrenz erörterte Frage nach einem besonderen Interesse der beklagten Partei an dem Plakatständer stellt sich daher nicht. Dem Kläger kann es dann aber auch nicht zum Nachteil gereichen, wenn er dazu kein Tatsachenvorbringen erstattet hat. Aus diesem Grund kann auch dahingestellt bleiben, ob - wie der Kläger meint - ein solches Interesse offenkundig ist.
§ 1319 ABGB sieht eine Haftung vor, wenn Teile eines Gebäudes oder eines anderen auf einem Grundstück aufgeführten Werks herabstürzen oder sich ablösen und dadurch ein Schaden verursacht wird. Der Besitzer des Gebäudes oder Werks haftet, wenn der Einsturz oder die Ablösung auf einer mangelhaften Beschaffenheit beruht.
Der Begriff "Werk" wird in der Rsp weit ausgelegt. So wurden etwa künstliche Aufbauten, wie zB Gerüste, Dachgärten, Tribünen, Landungsstege, eine Ankündigungstafel, eine auf einem Stativ befestigte Fernsehkamera oder ineinander gestapelte Müllcontainer als "Werk" iSd § 1319 ABGB angesehen. Auch die sinngemäße Anwendung des § 1319 ABGB auf ähnliche Fälle wird bejaht, insbesondere, was die Begriffe des "Werks" und des "Einsturzes" bzw "Ablösens" betrifft. Ungeachtet dieser extensiven Auslegung des Werkbegriffs und der Analogiefähigkeit hängt die Haftung nach § 1319 ABGB aber davon ab, dass sich eine typische Gefahr des "Werks" verwirklicht hat.
Der erkennende Senat hat jüngst in der E 2 Ob 79/08v, bei der es um die von einem ausgegrabenen, auf dem Feld liegen gebliebenen Grenzstein ausgehenden Gefahren ging, dargelegt, dass die Haftung nach § 1319 ABGB nicht schon durch ein Hindernis als solches begründet werden kann, sondern einer sich aus der Statik und Dynamik eines "Werks" ergebenden Gefahr als Voraussetzung bedarf.
Im Sinne der gebotenen weiten Auslegung dieses Begriffs könnte demnach auch ein Plakatständer als "Werk" beurteilt werden. Die nur der Sicherung des Plakatständers dienende Kette wäre infolge ihrer festen mechanischen Verbindung als Teil dieses "Werks" anzusehen. Die typische Gefahr eines solchen "Werks" (iSe dynamischen Vorgangs) wäre aber darin gelegen gewesen, dass der Plakatständer aufgrund unzureichender Standsicherheit oder äußerer Einflüsse umstürzen und dabei Schäden herbeiführen hätte können. Dass diese Gefahr verwirklicht worden wäre, hat der Kläger nicht behauptet. Die Kette, über die er stürzte, stellte sich jedoch als bloßes Hindernis dar.
Hat sich der Unfall auf einem Weg iSd § 1319a ABGB ereignet, so kann der Geschädigte die Auswirkungen des damit verbundenen Haftungsprivilegs nicht durch die Berufung auf die in § 1295 ABGB wurzelnde allgemeine Verkehrssicherungspflicht umgehen. Im Anwendungsbereich der besonderen Verkehrssicherungspflicht des Wegehalters gem § 1319a ABGB bleibt vielmehr für die Annahme allgemeiner Verkehrssicherungspflichten kein Raum.
Das Tatbestandsmerkmal "mangelhafter Zustand" in § 1319a ABGB bedeutet, dass nicht nur für den Weg selbst, sondern auch für dessen Verkehrssicherheit im weiteren Sinn gehaftet wird. Beurteilungsmaßstab für die Mangelhaftigkeit des Wegs ist das Verkehrsbedürfnis und die Zumutbarkeit entsprechender Maßnahmen. Welche Maßnahmen ein Wegehalter im Einzelnen zu ergreifen hat, richtet sich nach § 1319a Abs 2 letzter Satz ABGB danach, was nach Art des Wegs, besonders nach seiner Widmung, seiner geografischen Lage in der Natur und nach dem Verkehrsbedürfnis angemessen und nach objektiven Maßstäben zumutbar ist. Es kommt im jeweils zu prüfenden Einzelfall darauf an, ob der Wegehalter die ihm zumutbaren Maßnahmen getroffen hat, um die gefahrlose Benützung gerade dieses Wegs zu erreichen.
Welche Maßnahmen im konkreten Fall zu ergreifen sind, kann nur nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls beurteilt werden. Dies trifft auch auf die Beurteilung der Frage zu, ob die Unterlassung einer zumutbaren Maßnahme dem Wegehalter bereits als grobes Verschulden vorgeworfen werden kann. Ermessensfragen, wie solchen über die Schwere des Verschuldens, kommt nämlich im Allgemeinen keine über die besonderen Verhältnisse des Einzelfalls hinausgehende Bedeutung zu.
Nach stRsp ist unter grober Fahrlässigkeit iSd § 1319a ABGB eine auffallende Sorglosigkeit zu verstehen, bei der die gebotene Sorgfalt nach den Umständen des Falls in ungewöhnlichem Maß verletzt wird und der Eintritt des Schadens nicht nur als möglich, sondern geradezu als wahrscheinlich vorauszusehen ist. Der objektiv besonders schwere Verstoß muss auch subjektiv schwer anzulasten sein.