05.08.2010 Zivilrecht

OGH: Geht der Wohnungserhaltungsanspruch gem § 97 ABGB schon durch Ausweisung aus der Wohnung durch einstweilige Verfügung nach § 382b Abs 1 EO unter?

Die Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 382b Abs 1 EO führt nicht "automatisch" auch zur (endgültigen) Verwirkung des Wohnungserhaltungsanspruchs (§ 97 ABGB) des Weggewiesenen; die Beurteilung, ob die Berufung des wohnbedürftigen Ehegatten auf seinen Anspruch nach § 97 ABGB rechtsmissbräuchlich ist, bedarf einer umfassenden Interessenabwägung


Schlagworte: Familienrecht, Wohnungserhaltungsanspruch, dringendes Wohnbedürfnis, Schutz vor Gewalt in Wohnungen, einstweilige Verfügung, Rechtsmissbrauch
Gesetze:

§ 97 ABGB, § 382b EO

GZ 2 Ob 183/09i, 22.04.2010

OGH: § 97 ABGB räumt dem auf die weitere Benützung einer Wohnung angewiesenen Ehegatten gegen den über diese Wohnung verfügungsberechtigten anderen Ehegatten einen familienrechtlichen Anspruch auf Erhaltung der Wohnmöglichkeit ein. Der Bestimmung liegt der Gedanke zugrunde, dass ein Ehegatte durch die Eheschließung ein Wohnrecht an der ihm nicht oder nicht allein gehörenden Wohnung, die seinem dringenden Wohnbedürfnis dient, erwirbt; § 97 ABGB soll den berechtigten Ehegatten, dessen Wohnrecht nicht durch einen anderen Rechtstitel gesichert ist, vor Willkürakten des anderen schützen und ihm den räumlichen Lebensbereich erhalten, der ihm bisher zur Deckung der den Lebensverhältnissen der Ehegatten entsprechenden Bedürfnisse diente und den er weiter benötigt.

Ähnlich wie der Unterhaltsanspruch gemäß § 94 Abs 2 zweiter Satz ABGB findet auch der Anspruch des wohnungsbedürftigen Ehegatten seine Grenze im Rechtsmissbrauch. Da sich der Wohnungserhaltungsanspruch auf die eheliche Beistandspflicht gründet, ist Rechtsmissbrauch anzunehmen, wenn der wohnungsbedürftige Ehegatte seine Beistandspflicht selbst gröblich vernachlässigt hat.

Bei der von der Rsp entwickelten Fallgruppe "Verwirkung durch missbilligtes Verhalten" setzt der Vorwurf nicht bei den Umständen des Erwerbs eines Rechts bzw einer Rechtsposition an, sondern an einem Verhalten nach diesem Zeitpunkt, das aber vor der Rechtsausübung liegt. Der typische zeitliche Ablauf gestaltet sich danach in der Weise, dass ein Recht zunächst gültig erworben wird, es aber infolge eines - mit dem Recht in sachlichem Zusammenhang stehenden - Verhaltens des Berechtigten nicht gerechtfertigt erscheint, diesem Recht auch weiterhin Unterstützung durch die Rechtsordnung zu gewähren. Diese Wertung liegt etwa § 94 Abs 2 ABGB zugrunde. Da die Berufung auf dieses Recht idR dauerhaft gehindert sein soll, liegt es nahe, einen Tatbestand des Rechtsverlusts anzunehmen.

Bei der Beurteilung des Rechtsmissbrauchs nach § 94 Abs 2 Satz 2 ABGB richtet sich die an die Bejahung der Frage rechtsmissbräuchlichen Unterhaltsbegehrens anknüpfende Entscheidung, ob der Rechtsmissbrauch den Verlust oder die Minderung des Unterhaltsanspruchs zur Folge hat bzw in welchem Ausmaß der Anspruch allenfalls zu mindern ist, nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls. Es bedarf einer umfassenden Interessenabwägung, in welche neben den zur Bejahung des Rechtsmissbrauchs führenden Eheverfehlungen jedenfalls auch das Verhalten des unterhaltspflichtigen Ehepartners, die Dauer und die Gestaltung der ehelichen Lebensgemeinschaft, das Wohl vorhandener Kinder sowie der Bedarf des Unterhalt ansprechenden Ehegatten einzubeziehen sind.

Die Beurteilung, ob die Berufung des wohnbedürftigen Ehegatten auf seinen Anspruch nach § 97 ABGB rechtsmissbräuchlich ist, bedarf ebenfalls einer umfassenden Interessenabwägung, in welcher die Gesamtumstände des Einzelfalls, auch die Wohnsituation der (vormaligen) Ehegatten, zu berücksichtigen sind.

Die zur Erfüllung eines Wegweisungstatbestands nach § 382b EO erforderlichen Sachverhaltselemente werden im Regelfall zwar gleichzeitig geeignet sein, bei der Frage des Rechtsmissbrauchs der Geltendmachung eines Wohnungserhaltungsanspruchs gem § 97 ABGB eine gewichtige Rolle zu spielen, sie sind aber nicht das einzige Beurteilungskriterium.

Die aus dem Verfahren nach § 382b EO übernommenen Feststellungen, die insgesamt keine massive Gewalteinwirkung des Beklagten wiedergeben - die Rede ist ua von einem "Gezerre" und einem "Hin und Her" - genügen zur Begründung der (endgültigen) Verwirkung des Wohnungserhaltungsanspruchs für sich allein nicht.