OGH: Zum Umfang der Nachforschungspflicht von Ärzten und Krankenpflegern einer Notfallambulanz bei nur undeutlich geäußerten körperlichen Beschwerden
Die Pflicht zur Leistung erster ärztlicher Hilfe nach § 23 Abs 1 KAKuG begründet eine rechtliche Sonderbeziehung zwischen der Krankenanstalt und Personen, die eine solche Hilfeleistung anstreben; der Träger der Krankenanstalt haftet daher für ein bei der Erfüllung dieser Verpflichtung gesetztes Fehlverhalten seines Personals nach § 1313a ABGB; zunächst ist zu prüfen, ob ärztliche Hilfe erforderlich ist; darüber hat jedenfalls ein Arzt zu entscheiden
§§ 1295 ff ABGB, § 23 Abs 1 KAKuG
GZ 4 Ob 36/10p, 11.05.2010
OGH: Die Klägerin macht einen Schaden geltend, den die Beklagte infolge schuldhafter Unterlassung der Erstuntersuchung ihres Sohnes und Enkelsohnes zu verantworten habe. Eine Unterlassung ist rechtswidrig, wenn jemand zur aktiven Schadensabwehr verpflichtet ist. Eine Pflicht zum Handeln kann sich aus einer vertraglichen Verpflichtung, einem vorvertraglichen Schuldverhältnis oder einer gesetzlichen Verpflichtung ergeben.
Im vorliegenden Fall ergibt sich eine Handlungspflicht der Beklagten aus § 36 Abs 8 Wiener Krankenanstaltengesetz. Diese Bestimmung setzt die (gleichlautende) Grundsatzbestimmung des § 23 Abs 1 Krankenanstalten- und Kuranstaltengesetz (KAKuG) um und sieht vor, dass in öffentlichen Krankenanstalten niemandem unbedingt notwendige erste ärztliche Hilfe verweigert werden darf. Damit soll eine Basisversorgung für den Notfall gewährleistet werden. Anders als die (allgemeine) Behandlungspflicht nach § 48 ÄrzteG setzt § 23 Abs 1 KAKuG nicht Lebensgefahr voraus, sondern greift schon dann ein, wenn eine in eine Krankenanstalt eingelieferte oder dort erschienene Person dringend behandlungsbedürftig ist.
Ob Behandlungsbedarf vorliegt, kann nur von einem Arzt entschieden werden. Denn die dafür erforderliche Diagnose von (behaupteten) Krankheitszuständen fällt unter § 2 Abs 2 Z 1 ÄrzteG und ist daher den Ärzten vorbehalten. Demgegenüber erfasst die Ausübung des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege nach § 14 Abs 1 Gesundheits- und Krankenpflegegesetz (nur) die "eigenverantwortliche Diagnostik [...] aller pflegerischen Maßnahmen im intra- und extramuralen Bereich (Pflegeprozess)". Daher steht es einem (auch diplomierten) Gesundheits- und Krankenpfleger (selbstverständlich) nicht zu, hilfesuchende Personen in einer Krankenanstalt ohne Befassung eines Arztes abzuweisen. Diese eindeutige Rechtslage muss Angehörigen des Krankenpflegepersonals aufgrund ihrer Ausbildung bekannt sein.
Das Fehlverhalten des Krankenpflegers ist der Beklagten als Trägerin der Krankenanstalt nach § 1313a ABGB zuzurechnen. Voraussetzung für die Anwendung dieser Bestimmung ist eine rechtliche Sonderbeziehung zwischen den Parteien, die auch durch ein Gesetz begründet sein kann. Das trifft bei der Behandlungspflicht nach § 23 Abs 1 KAKuG zu. Diese Bestimmung begründet für den Fall der Behandlungsbedürftigkeit einen Kontrahierungszwang der Krankenanstalt. Daraus ergibt sich zwingend die gesetzliche Verpflichtung der Krankenanstalt, durch geeignete Maßnahmen festzustellen, ob eine Behandlung hilfesuchender Personen erforderlich ist. Zwischen den eine Behandlung anstrebenden Angehörigen und der Beklagten bestand daher eine rechtliche Sonderbeziehung, in deren Rahmen der Krankenpfleger tätig wurde.
Erfolgt die (angebliche) Schädigung - wie hier - durch ein Unterlassen, so ist Kausalität dann anzunehmen, wenn die Vornahme einer bestimmten aktiven Handlung das Eintreten des Erfolgs verhindert hätte. Es muss daher versucht werden, den hypothetischen Ablauf bei Vermeiden der Unterlassung durch Setzen des gebotenen Verhaltens herauszufinden. Das gebotene Verhalten ist hinzuzudenken. Die Beweislast, dass der Schaden bei pflichtgemäßem Verhalten nicht eingetreten wäre, trifft den Geschädigten. Lediglich die Anforderungen an den Beweis des bloß hypothetischen Kausalverlaufs sind geringer als die Anforderungen an den Nachweis der Verursachung bei einer Schadenszufügung durch positives Tun. Denn die Frage, wie sich die Geschehnisse entwickelt hätten, wenn der Schädiger pflichtgemäß gehandelt hätte, lässt sich naturgemäß nie mit letzter Sicherheit beantworten, weil dieses Geschehen eben nicht stattgefunden hat.
Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht daher Feststellungen zu treffen haben, ob eine Information des Arztes den Tod der Männer verhindert hätte. Dabei ist von einem sorgfältig handelnden Arzt auszugehen, der nach der pflichtgemäßen Verständigung durch den Krankenpfleger ein Anamnesegespräch mit den beiden Männern geführt hätte. Es wird - außer bei einer diesbezüglichen Außerstreitstellung - unter Beiziehung eines medizinischen Sachverständigen zu klären sein, ob ein solcher Arzt unter den Umständen des Einzelfalls eine Kohlenmonoxidvergiftung für möglich gehalten und daher eine sofortige Blutgasanalyse bei den drei Patienten angeordnet hätte. Dass eine solche Analyse das Vorliegen einer Vergiftung bestätigt hätte, steht fest, da sogar noch am Tag darauf bei der Großmutter ein erhöhter Kohlenmonoxidwert festgestellt worden war. Dass die Männer noch am Leben wären, wenn sie auf eine Kohlenmonoxidvergiftung hingewiesen worden wären, liegt auf der Hand.
Ist die Kausalität zu bejahen, so bestünden keine Zweifel am Rechtswidrigkeitszusammenhang und an der Adäquanz. Die Pflicht zur Leistung erster ärztlicher Hilfe dient zwar in erster Linie dazu, einer akuten Gesundheitsbeeinträchtigung abzuhelfen. Muss der pflichtgemäß herbeigerufene Arzt dabei aber aufgrund seines medizinischen Wissens erkennen, dass diese Beeinträchtigung auf einer möglicherweise weiterhin vorhandenen, dem Patienten jedoch nicht bekannten Gefahrenquelle beruht, so ist er selbstverständlich zur Warnung verpflichtet. Unter dieser Voraussetzung hat die Hilfeleistungspflicht auch den Zweck, eine neuerliche Verwirklichung der Gefahr zu verhindern. Der im konkreten Fall eingetretene Schaden ist daher vom Schutzzweck der Norm erfasst. Dass es bei einem Unterbleiben der Warnung zu einer neuerlichen Vergiftung kommen konnte, lag nach der Lebenserfahrung nahe; der Schaden wäre daher auch adäquat verursacht.
In Bezug auf das von ihr begehrte Schmerzengeld hat die Klägerin behauptet, dass ihre Beeinträchtigung aufgrund des Todes der nahen Angehörigen Krankheitswert habe (Nervenzusammenbruch, Notwendigkeit psychologischer Betreuung). Wenn das zutrifft, läge ein Schockschaden vor, und es käme, anders als beim bloßen Trauerschmerzengeld, nicht auf das Vorliegen grober Fahrlässigkeit an. In Bezug auf die Höhe eines allfälligen Anspruchs wird sich das Erstgericht an der Rsp des OGH zu orientieren haben.
Entgangener Unterhalt gebührte zumindest in Höhe eines gesetzlichen Unterhaltsanspruchs der Klägerin gegen ihre Angehörigen. Sind nicht alle Beteiligten österreichische Staatsbürger, wären Grund und Höhe dieses Anspruchs nach dem darauf anwendbaren Recht zu beurteilen. Dieses Recht ist nach § 24 oder § 25 Abs 2 IPRG zu ermitteln. Diese Bestimmungen erfassen - vorbehaltlich hier nicht anwendbarer Staatsverträge wie des nur Ansprüche von Kindern erfassenden Haager Unterhaltsstatutübereinkommens 1956 - jeweils das gesamte Eltern-Kind-Verhältnis, insbesondere daher die wechselseitigen Unterhaltsansprüche. Maßgebend ist daher das Personalstatut des in Anspruch genommenen Kindes (gegebenenfalls in entsprechender Anwendung der genannten Bestimmungen des in Anspruch genommenen Enkels); Rück- oder Weiterverweisungen wären nach § 5 IPRG zu beachten. Wurde tatsächlich mehr als der nach dem anwendbaren Recht zustehende Unterhalt geleistet, gebührt der höhere Betrag, wenn er noch einigermaßen ins Verhältnis zur gesetzlichen Unterhaltspflicht gesetzt werden kann.
Zum Mitverschuldenseinwand:In diesem Zusammenhang wird grundsätzlich auch das Mitverschulden des Sohnes der Klägerin (unsachgemäße Montage des Ofens) zu berücksichtigen sein. Für die Ansprüche nach § 1327 ABGB ist das wegen der Analogie zu § 7 Abs 2 EKHG unstrittig. Nach stRsp ist ein Mitverschulden des Getöteten aber auch beim Schmerzengeld für Schockschäden zu beachten.
Wäre der Sohn in der ersten Nacht allein in der Wohnung gewesen und dort gestorben, so hätte die Klägerin gegen dessen Nachlass keinen Anspruch auf Schockschadenersatz gehabt. Denn seine Selbstschädigung wäre grundsätzlich nicht rechtswidrig gewesen. Die Sorglosigkeit des Sohnes in seinen eigenen Angelegenheiten hätte daher ausschließlich zum Lebensrisiko der Klägerin gehört. Das Hinzutreten eines für den Tod mitverantwortlichen Dritten kann nicht dazu führen, dass diese auf § 1311 Satz 1 ABGB beruhende und daher nicht mit bloßen "Billigkeitserwägungen" begründete Risikozuordnung zur Gänze unbeachtlich würde. Vielmehr ist der Schaden noch immer teilweise der Sphäre der Klägerin zuzurechnen; sie hat ihn daher anteilig selbst zu tragen.
Diese Situation unterscheidet sich grundlegend von der Verursachung eines Schadens durch mehrere Personen, die jeweils auch gegenüber dem Geschädigten vorwerfbar gehandelt haben. Insofern hat es bei der Regel des § 1302 ABGB zu bleiben; das Verhalten eines der mehreren Schädiger kann daher nicht als "Zufall" der Sphäre des Geschädigten zugerechnet werden. Muss hingegen der Geschädigte das selbstschädigende Verhalten einer ihm nahestehenden Person als Teil seines Lebensrisikos hinnehmen, so kann die bloß mitwirkende Verursachung durch einen fahrlässig handelnden Dritten nicht zu einer Haftung für den gesamten Schockschaden führen. Insofern besteht unter Bedachtnahme auf die Wertung des § 7 Abs 2 EKHG kein tragfähiger Unterschied zum Schadenersatz nach § 1327 ABGB oder zum (bloßen) Trauerschmerzengeld, das bei einem Mitverschulden des Getöteten zu kürzen ist.
Anders verhält es sich jedoch bei der Tötung des Enkels. Hier war der Sohn wegen der unsachgemäßen Installation des Ofens zweifellos Mittäter. Er (sein Nachlass) haftete daher insofern solidarisch mit der (allenfalls) ersatzpflichtigen Beklagten; einen Grund für die Zurechnung seines Verhaltens zur geschädigten Klägerin gibt es nicht. Soweit sich daher die geltend gemachten Ansprüche auf den Tod des Enkels gründen, bleiben sie vom Verschulden des Sohnes unberührt. Ein allfälliges Mitverschulden der Klägerin selbst wäre aber auch hier zu berücksichtigen.
Den Feststellungen des Erstgerichts kann nicht mit der erforderlichen Sicherheit entnommen werden, von wem das "gesetzliche Heizverbot" verhängt wurde und ob es der Klägerin bekannt war. Davon wird abhängen, ob sie sich (auch) ein eigenes Mitverschulden anrechnen lassen muss. Daher ist im gegenwärtigen Verfahrensstadium noch keine umfassende Beurteilung der Mitverschuldensfrage möglich.