29.07.2010 Zivilrecht

OGH: Genehmigung einer besonderen Heilbehandlung gem § 36 Abs 2 UbG

Behandlungen, die die körperliche Integrität des Betroffenen in besonderer Weise beeinträchtigen, wie etwa "Elektroschocks", werden als "besondere Heilbehandlung" iSd § 36 Abs 2 UbG anzusehen sein; bei Behandlungen, mit denen Persönlichkeitsveränderungen verbunden sind, wird zu unterscheiden sein: Behandlungen, die auf die Heilung (und damit die Veränderung) der kranken Persönlichkeit selbst abzielen, werden nicht schlechthin "besondere Heilbehandlungen" sein; wenn eine Behandlung aber über das Ziel einer solchen Heilung hinaus - vorübergehende oder dauernde - Veränderungen der Persönlichkeit des Kranken, andere erhebliche Nebenwirkungen oder sonst schwerwiegende Beeinträchtigungen der körperlichen oder psychischen Verfassung nach sich zieht, wird eine "besondere Heilbehandlung" vorliegen


Schlagworte: Unterbringungsrecht, besondere Heilbehandlung
Gesetze:

§ 36 Abs 2 UbG, § 38 UbG, § 35 UbG, § 37 UbG

GZ 6 Ob 62/10a, 15.04.2010

OGH: Besondere Heilbehandlungen sind nach §§ 36 Abs 2, 38 UbG im Vorhinein gerichtlich zu genehmigen, sofern der Patient im Bezug auf die zu genehmigende Behandlung weder einsichts- noch urteilsfähig ist noch einen hiefür zuständigen gesetzlichen Vertreter oder Erziehungsberechtigten hat. Vor der wirksamen Erlassung des Genehmigungsbeschlusses darf eine besondere Heilbehandlung nur im Rahmen des § 37 UbG bei Gefahr im Verzug vorgenommen werden.

Die materiellen Kriterien für die Genehmigung besonderer Heilbehandlungen ergeben sich aus den allgemeinen Behandlungsvoraussetzungen des § 35 Abs 1 UbG. Zu prüfen ist insbesondere, ob die Behandlung den Grundsätzen und anerkannten Methoden der medizinischen Wissenschaft entspricht und ob sie im Hinblick auf ihren Zweck verhältnismäßig ist.

Für das Verfahren über die Genehmigung besonderer Heilbehandlungen gelten dieselben Regeln wie für das Verfahren über die Zulässigkeit von Behandlungen. Gem § 38 Abs 1 UbG hat sich das Gericht vor der Entscheidung über die Genehmigung einer besonderen Heilbehandlung in einer Tagsatzung an Ort und Stelle einen persönlichen Eindruck vom Kranken und dessen Lage zu verschaffen. Zur Tagsatzung hat das Gericht den Vertreter des Kranken und den Abteilungsleiter zu laden; es kann auch einen Sachverständigen (§ 19 Abs 3 UbG) beiziehen.

Der Begriff der "besonderen Heilbehandlung" in § 36 UbG ist im Gesetz nicht näher definiert. Nach der Rsp ist jeweils im Einzelfall abzuwägen, ob eine derartige "besondere Heilbehandlung" vorliegt. Dabei sind etwa Behandlungen, die die körperliche Integrität des Betroffenen in besonderer Weise beeinträchtigen wie "Elektroschocks" jedenfalls als "besondere Heilbehandlung" anzusehen. Bei Behandlungen, mit denen Persönlichkeitsveränderungen verbunden sind, ist zu unterscheiden: Behandlungen, die auf die Heilung (und damit die Veränderung) der kranken Persönlichkeit selbst abzielen, sind nicht schlechthin als "besondere Heilbehandlungen" einzustufen. Wenn eine Behandlung aber über das Ziel einer solchen Heilung hinausgeht, wenn sie vorübergehende oder dauernde Veränderungen der Persönlichkeit des untergebrachten Kranken, andere erhebliche Nebenwirkungen oder sonst schwerwiegende Beeinträchtigungen der körperlichen oder psychischen Verfassung nach sich zieht, ist von einer "besonderen Heilbehandlung" auszugehen.

Die Besonderheit des vorliegenden Falls liegt darin, dass die Notwendigkeit der Behandlung nicht unmittelbar Folge des Geisteszustands des Patienten ist, sondern wegen Schluckstörung gegeben ist, sodass Medikamente und Ernährung nur unregelmäßig verabreicht werden können. Allerdings ist der Begriff der "besonderen Heilbehandlung" iSd § 36 UbG nicht auf Behandlungen von Geisteskrankheiten und vergleichbaren Störungen beschränkt.

Bisher hat die Rsp etwa das Setzen eines Cava-Katheters nicht als besondere Heilbehandlung angesehen. Auch wurde die gerichtliche Genehmigungspflicht im Fall einer Sondenernährung durch die Nase verneint. Der OGH hat ausgesprochen, dass die Ernährung mittels eingeführter, in den Magen des Patienten reichender Sonden zwar einen körperlich unangenehm empfundenen Eingriff darstelle, jedoch eine dauernde oder auch nur vorübergehende Veränderung der Persönlichkeit des Patienten nicht befürchten lasse.

Allerdings unterscheidet sich die perkutane endoskopische kontrollierte Gastrostomie (PEG) von den angeführten Verfahren insoweit, als es sich dabei um ein Verfahren zur enteralen Ernährung und Flüssigkeitszufuhr unter Umgehung des cervico-thoracalen Verdauungstrakts handelt. Dabei wird eine Sonde durch die Bauchdecke gesetzt, was grundsätzlich in Lokalanästhesie durchgeführt wird. Im Hinblick auf diese damit zwangsläufig verbundene Beeinträchtigung der körperlichen Integrität sowie die mit dem Setzen einer PEG-Sonde in der Regel verbundene Notwendigkeit der Fixierung des Patienten ist das Vorliegen einer besonderen Heilbehandlung iSd § 36 UbG zu bejahen.

Der Umstand, dass das Erstgericht im vorliegenden Fall die Entscheidung entgegen § 38 Abs 2 UbG nicht mündlich verkündete, hat nicht zur Folge, dass die Vorgangsweise des Erstgerichts als Unterbleiben der von § 38 Abs 1 UbG geforderten Tagsatzung angesehen werden könnte. Vielmehr ist zwischen dem in § 38 Abs 1 UbG geregelten Zweck der Tagsatzung, dass sich das Gericht an Ort und Stelle einen persönlichen Eindruck vom Patienten und seiner Lage verschafft, und der Regelung über die Entscheidung und deren Bekämpfung in § 38 Abs 2 UbG zu differenzieren. Bei dem Erfordernis, die Entscheidung in der Niederschrift über die Tagsatzung zu beurkunden, woraus sich ergibt, dass diese Entscheidung in der Tagsatzung zu fällen und zu verkünden (vgl § 36 Abs 1 AußStrG) ist, handelt es sich um eine sanktionslose Ordnungsvorschrift.

Der Einwand, durch das Unterlassen der mündlichen Verkündung des Beschlusses sei der Revisionsrekurswerberin die Möglichkeit genommen worden, gem § 38 Abs 2 UbG Rechtsmittel anzumelden und damit eine aufschiebende Wirkung des Rekurses herbeizuführen, geht ins Leere. Nach § 43 Abs 1 AußStrG treten nämlich stets Vollstreckbarkeit, Verbindlichkeit der Feststellung oder Rechtsgestaltung erst mit der Rechtskraft eines Beschlusses ein. Das Gericht kann jedoch nach § 44 Abs 1 AußStrG einem Beschluss vorläufige Verbindlichkeit zuerkennen. Damit unterscheidet sich die Regelung des § 38 Abs 2 UbG vom normalen Außerstreitverfahren nur durch die zwingend angeordnete Verkündung. Deren Unterlassung hat nach dem Gesagten aus den dargelegten Überlegungen keine Verkürzung der Rechtsstellung des Patienten zur Folge.

Vielmehr kommt dem Rekurs des Kranken nach § 38 Abs 2 UbG ohnedies ex lege aufschiebende Wirkung zu. Die Genehmigung ist schwebend unwirksam mit der Konsequenz, dass die Behandlung nur im Rahmen des § 37 UbG bei Gefahr im Verzug zulässig ist. Soll die Genehmigung hingegen sofort wirksam werden, so muss das Gericht die aufschiebende Wirkung des Rekurses gesondert ausschließen.

Im Übrigen ist weder dem Rekurs noch dem Revisionsrekurs zu entnehmen, inwieweit das Unterbleiben einer weiteren Tagsatzung nach Vorliegen des zunächst schriftlich erstatteten Sachverständigengutachtens die Verfahrensrechte des Patienten in relevanter Weise beeinträchtigt hätte, wurde doch eine Erörterung oder Ergänzung des Gutachtens nicht beantragt. Eine zwingende mündliche Gutachtenserörterung sieht § 38 Abs 1 UbG aber nicht vor.

Soweit der Revisionsrekurs Feststellungen zur Frage vermisst, inwieweit die physische und psychische Verfassung des Patienten durch das Einsetzen der PEG-Sonde beeinträchtigt wird, ist dem entgegenzuhalten, dass nach den unbekämpft gebliebenen Ergebnissen des eingeholten Sachverständigengutachtens ohne tägliche Infusionstherapie ein Zustand der Unterernährung sowie eine ernstliche und erhebliche vitale Gefährdung des Patienten binnen Tagen droht. Allfällige denkbare Alternativen zur vom Sachverständigen aus den dargelegten Gründen als notwendig bezeichneten PEG-Sonde werden von der Revisionsrekurswerberin nicht einmal ansatzweise aufgezeigt.