OGH: Bemessung des "Angehörigenschmerzengeldes"
Allgemeine Ausführungen
§§ 1295 ff ABGB
GZ 2 Ob 135/07b, 27.09,.2007
OGH:1. Psychische Alteration mit Krankheitswert/Schockschaden:Die Entscheidung 2 Ob 111/03t betraf eine zum Unfallszeitpunkt vierzehnjährige Klägerin, deren Eltern bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt wurden und mehrere Wochen in stationärer Behandlung waren. Als Belastungsreaktion kam es bei der Klägerin zu der psychosomatischen Erkrankung "Anorexia nervosa" verbunden mit einer (lebensbedrohlichen) Gewichtsabnahme auf zuletzt 33 kg bei einer Körpergröße von 162 cm und suizidalen Tendenzen. Die Eltern besuchten die Minderjährige während ihres stationären Aufenthalts laufend und unterstützten sie auch bei den Therapien. Der OGH erachtete den begehrten Schmerzengeldbetrag von EUR 21.500 (eingeklagt: ATS 300.000 = EUR 21.801,85) aufgrund der besonders dramatisch ausgeprägten Gesundheitsschädigung für durchaus angemessen.
In der öfters als Extremfall bezeichneten Entscheidung 2 Ob 186/03x bejahte der OGH die Angemessenheit des strittigen Schmerzengeldes von EUR 65.000: Ein 55-jähriger Familienvater hatte bei einem Unfall seine gesamte nahe Familie (Ehefrau und drei minderjährige Kinder) verloren, was mit schweren andauernden psychischen Beeinträchtigungen (bis zur Berufsunfähigkeit und zu Suizidgedanken) verbunden war.
Die Entscheidung 2 Ob 292/04m sprach einer 31-jährigen zweifachen Mutter, die nach dem tödlichen Arbeitsunfall ihres gleichaltrigen Mannes etwa ein Jahr unter einer depressiven Störung mit Suizidgefährdung litt und insgesamt 23 kg an Gewicht verlor, deren Status aber zuletzt nach Aufnahme einer neuen Beziehung etwa zwei Jahre nach dem Unfall als unauffällig beurteilt wurde, ein Schmerzengeld von EUR 25.000 zu.
2. Physiologische Trauerreaktion ohne Krankheitswert/Trauerschmerzengeld:In der Entscheidung 2 Ob 141/04f wurde bei einer trotz fehlender Haushaltsgemeinschaft besonders engen und intensiven Beziehung zwischen der getöteten 61-jährigen Mutter und dem 40-jährigen Sohn ein Trauerschmerzengeld von EUR 13.000 als angemessen angesehen.
In der Entscheidung 2 Ob 90/05g bezifferte der erkennende Senat den Anspruch auf Trauerschmerzengeld eines Klägers, der bei einem Verkehrsunfall seinen um zwei Jahre jüngeren, behinderten Bruder verloren hatte, mit EUR 9.000. Berücksichtigt wurde dabei die zwischen dem Kläger und seinem Bruder bestandene intensive, fürsorgliche, einem Vater-Sohn-Verhältnis nahezu gleichkommende Beziehung.
In jüngster Zeit erachtete der OGH zu 2 Ob 263/06z den Zuspruch eines Trauerschmerzengeldes von je (ungekürzt) EUR 20.000 an Eltern, die ihre sechsjährige Tochter bei einem Verkehrsunfall in nur 300 m Entfernung vom Wohnhaus der Familie verloren und knapp nach dem Unfall ihre verunglückten Angehörigen an der Unfallstelle vorfanden, insbesondere wegen der besonderen Intensität der familiären Nahebeziehung nicht für überhöht.
Beide zu 1 und 2 genannten Themenkreise überschnitten sich in dem zu 2 Ob 212/04x entschiedenen Fall eines Klägers, der nach dem Tod seiner Lebensgefährtin zunächst ca zwei Wochen an einer psychischen Störung mit Krankheitswert litt, die dann in einen physiologischen Trauerzustand überging. Ihm wurde das begehrte Schmerzengeld von (ungekürzt) EUR 11.000 zuerkannt. Der OGH führte dazu aus, dass die Intensität einer Beziehung zwischen Lebensgefährten zumindest das geltend gemachte Schmerzengeld rechtfertige, zumal der Verlust eines Lebenspartners, mit dem der bisherige Alltag geteilt worden sei, die Lebenssituation drastisch ändere und daher als besonders schmerzlich empfunden werde.
Sämtliche Entscheidungen stellen bei der Bemessung der Anspruchshöhe auf die Intensität der familiären Bindung ab und betonen, dass neben dem Alter von Unfallopfer und Angehörigen insbesondere das Bestehen einer Haushaltsgemeinschaft von Bedeutung sei (insb 2 Ob 141/04f mit Nachweisen zur Schweizer Rechtslage). Die soeben zitierte Entscheidung misst dem Vorliegen einer eigenen Gesundheitsschädigung (eines krankheitswertigen "Schockschadens") erhöhende Auswirkungen bei der auch im Fall von seelischen Schmerzen global vorzunehmenden Bemessung des Schmerzengeldes zu. Ein Abgehen vom Grundsatz der Globalbemessung bei psychischen Schäden lässt sich auch der zu RIS-Justiz RS0118172 = 1 Ob 200/03y = ZVR 2004/49 im zweiten Satz (missverständlich) dokumentierten Aussage nicht entnehmen, wonach der Ausmittlung des zur Abgeltung psychischer Schäden zuzuerkennenden Schmerzengeldes bedenkenlos "Schmerzperioden" zugrundegelegt werden können. Die zitierte Entscheidung betont nämlich durchaus, dass einzelne Bemessungskriterien als "bewegliches System" zu verstehen sind, innerhalb dessen Grenzen ein weiter Spielraum für die den Erfordernissen des Einzelfalls jeweils gerecht werdende Ermessensausübung besteht. Überdies bezeichnet sie Schmerzperioden als Berechnungshilfe. Schmerzperioden haben letztlich auch bei psychischen Beeinträchtigungen primär die Funktion, die Dauer und damit die Intensität einer derartigen Gesundheitsschädigung greifbar zu machen. Im konkreten Fall löste der Unfalltod der Mutter bei dem damals knapp siebzehnjährigen Sohn zeitverzögert eine massive Depression aus, die mit Selbstmord endete. Es handelte sich um eine psychische Störung mit Krankheitswert, weshalb ohne Zweifel die Voraussetzungen für den Zuspruch von Schmerzengeld als Abgeltung des Schockschadens verwirklicht sind. Der Versuch, bei der Bemessung des Angehörigenschmerzengeldes die Entscheidung 2 Ob 111/03t als Orientierungshilfe für eine Art Obergrenze heranzuziehen, scheitert aus mehrfachen Erwägungen:Zwar sind mehrere, für die Bemessung relevante Faktoren wie adoleszentes Entwicklungsstadium des Geschädigten, die Eltern-Kind-Beziehung als Anhaltspunkt für die Intensität der Gefühlsgemeinschaft, der gemeinsame Haushalt, mehrfache Krankenhausaufenthalte, suizidale Tendenzen, vergleichbar. Zu berücksichtigen ist aber zunächst, dass der in der eben zitierten Entscheidung vorgenommene Zuspruch durch das Begehren begrenzt war. Der entscheidende Unterschied liegt aber vorrangig darin, dass die dortige Klägerin nicht mit dem endgültigen Verlust ihrer durch den Unfall schwer verletzten Eltern konfrontiert war und sie - ungeachtet des noch nicht gänzlich abgeschlossenen Heilungsprozesses - sich nach Behandlung und Rehabilitation wieder in das Alltagsleben eingliedern konnte. Die Eltern konnten ihr während der Behandlung zur Seite stehen und die Rehabilitation fördern. Diese Möglichkeit bestand hier nicht; der Sohn des Unfallopfers verlor mit seiner Mutter die einzige wichtige Bezugsperson in seinem Leben, zu der ein starkes Abhängigkeitsverhältnis bestanden hatte. Ihm fehlte nicht nur der familiäre Rückhalt in der verbliebenen Kernfamilie (Eltern-Kinder), er verfügte auch aufgrund seiner intellektuellen Besonderheit (seit seiner Geburt (23. 8. 1985) minderbegabt) nicht über die entsprechenden "Bewältigungs-Mechanismen". Die dramatische Entwicklung als Reaktion auf den Verlust der Kernfamilie rückt die Situation in die Nähe des "Extremfalles" 2 Ob 186/03x. Eine Abgrenzung der beiden Fälle mit Hilfe der Opferzahl erscheint ebenso unangebracht wie das Argument der zeitlichen Begrenzung des depressiven Zustandes durch den Selbstmord und der dadurch ausgeschlossenen Möglichkeit des Geschädigten, allenfalls in Zukunft entgangene Lebensfreude durch mittels des Schmerzengeldes zu finanzierende Anschaffungen zu kompensieren. Der erkennende Senat hält aus diesen Erwägungen das in dritter Instanz noch begehrte Schmerzengeld von insgesamt EUR 35.000 nicht für überhöht.Die von Griehser/Tutsch aaO geäußerten Befürchtungen, eine exzessive Judikatur mit vorrangigem Blick auf eine Pönalfunktion des Schmerzengeldes fördere den Einzug amerikanischer Verhältnisse bei Schadenersatzansprüchen - Stichwort: "punitive damages" - kann der erkennende Senat bei einem Vergleich zwischen österreichischen und notorisch höheren amerikanischen Zusprüchen nicht teilen.