OGH: Zur Ersetzungsbefugnis des Verkürzenden bei der laesio enormis
Materiell-rechtlich führt die Erklärung, zur Aufzahlung bis zum gemeinen Wert bereit zu sein, dazu, dass der Verkürzte nicht mehr mit Rechtsgestaltungsurteil die Vertragsaufhebung, sondern nur noch die Zahlung des Ausgleichsbetrags fordern kann
§ 934 ABGB, § 235 ZPO
GZ 9 Ob 44/24x, 19.09.2024
OGH: § 934 ABGB räumt demjenigen, der bei zweiseitig verbindlichen Geschäften nicht einmal die Hälfte dessen, was er dem anderen gegeben hat, von diesem an gemeinem Wert erhalten hat, das Recht ein, die Aufhebung und die Herstellung in den vorigen Stand zu fordern. Nach S 2 leg cit kann aber der andere Teil das Geschäft dadurch aufrecht erhalten, dass er den Abgang bis zum gemeinen Wert zu ersetzen bereit ist. Er hat seine diesbezügliche Bereitschaft spätestens bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz zu erklären, da bis zur Klärung des wahren Wertes von Leistung und Gegenleistung oft noch gar nicht beurteilt werden kann, ob das Aufhebungsbegehren berechtigt ist und welchen Betrag der Verkürzende anzubieten hat. Die konkrete Bezifferung des vom verkürzenden Vertragsteil angebotenen Aufzahlungsbetrags wird nach der Rsp nicht gefordert. Oft erlangt der Beklage erst mit dem Ersturteil Kenntnis vom (festgestellten) gemeinen Wert der Sache zum Verkaufszeitpunkt. Wurde aber ein Vertrag wegen Verletzung über die Hälfte mit rechtskräftigem Rechtsgestaltungsurteil für aufgelöst erklärt, so könnte er durch nachträgliches Anbieten des Preisunterschieds nicht wieder Gültigkeit erlangen.
Macht der Verkürzende von der ihm gesetzlich eingeräumten wahlweisen Ermächtigung durch seine Erklärung Gebrauch, bringt er damit den Aufhebungs- und Sachrückübertragungsanspruch der Verkürzten zum Erlöschen. Damit kann nicht mehr mit Rechtsgestaltungsurteil die Vertragsaufhebung unter Einräumung eines schon konsumierten Wahlrechts ausgesprochen werden. Dem Verkürzten steht nur mehr ein Anspruch auf Leistung des auf den gemeinen Wert fehlenden Abgangs zu. Nach der Rsp hat sich der Verkürzte im Verfahren dann, wenn Verfahrensgegenstand nicht eine Leistungsklage ist, darüber zu erklären, ob er das Klagebegehren aufrecht hält oder es in eine Leistungsklage ändert. Diese Klagsänderung ist sodann, da sie materiell-rechtlich begründet ist, ohne Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 235 ZPO zuzulassen.
Das Wahlrecht des Verkürzenden nach § 934 S 2 ABGB stellt ein gesetzliches Gestaltungsrecht dar. Ein Gestaltungsrecht wird regelmäßig durch formlose empfangsbedürftige Willenserklärung ausgeübt, wird mit deren Zugang an den Empfänger wirksam und erlischt mit seiner Ausübung. Mit Ausübung des Gestaltungsrechts wird die andere Leistung neuer Schuldinhalt. Materiell-rechtlich führt daher die Erklärung, zur Aufzahlung bereit zu sein, dazu, dass der Verkürzte nicht mehr mit Rechtsgestaltungsurteil die Vertragsaufhebung, sondern nur noch die Zahlung des Ausgleichsbetrags fordern kann. Deshalb ist ein auf Vertragsaufhebung gerichtetes Begehren abzuweisen.