OGH: Zur Frage, ob eine subjektiv empfundene Sichtbeeinträchtigung bei einer Vorrangverletzung ein eigenständiges Verschuldenskriterium darstellt
Ein gänzliches Missachten des Vorrangs, etwa weil der Erstbeklagte ohne nach links zu blicken in die Kreuzung eingefahren ist, würde jedenfalls den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit begründen und den Zuspruch von Trauerschmerzengeld rechtfertigen
§§ 1295 ff ABGB, § 1325 ABGB, § 19 StVO
GZ 2 Ob 63/24i, 25.06.2024
OGH: Die Beurteilung des Verschuldensgrades hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und begründet deshalb für sich genommen – von groben Auslegungsfehlern abgesehen – keine erhebliche Rechtsfrage. Wohl aber sind Feststellungsmängel, die eine abschließende rechtliche Beurteilung des Sachverhalts unmöglich machen, schon aus Gründen der Rechtssicherheit auch vom OGH stets aufzugreifen. Die Revision ist demnach zulässig, weil die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen nicht ausreichen, um den Verschuldensgrad des Erstbeklagten abschließend zu beurteilen.
Nach stRsp kommt ein Zuspruch von Trauerschmerzengeld für den Verlust naher Angehöriger nur bei grober Fahrlässigkeit oder Vorsatz in Betracht. Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn eine ungewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht vorliegt. Dies erfordert eine Sorglosigkeit, wie sie nur bei besonders nachlässigen oder leichtsinnigen Menschen vorkommt. Das Verhalten des Schädigers muss sich auffallend aus der Menge der unvermeidlichen Fahrlässigkeitshandlungen des täglichen Lebens herausheben. Darüber hinaus muss der objektive Sorgfaltsverstoß auch subjektiv schwerstens vorwerfbar sein.
Ein benachrangter Fahrzeuglenker muss den bevorrangten Verkehr gehörig beobachten, um die im Vorrang befindlichen Verkehrsteilnehmer nicht zu gefährden oder zu behindern. Im Fall einer Sichtbehinderung ist der benachrangte Fahrzeuglenker nach stRsp des OGH verpflichtet, sich äußerst vorsichtig zur Kreuzung vorzutasten, bis er die notwendige Sicht erhält. Dies gilt immer dann, wenn die bevorrangte Straße nicht in jenem Ausmaß überblickt werden kann, um mit Sicherheit beurteilen zu können, dass durch das Einfahren in die Kreuzung keine bevorrangten Fahrzeuge behindert werden. Im vorliegenden Fall hätte der Erstbeklagte den Radfahrer aber trotz des Baumes sehen können. Es wurde auch nicht festgestellt, dass der Erstbeklagte diesen Baum subjektiv als Sichtbehinderung empfunden hat, sodass sich die vom Berufungsgericht als erheblich bezeichnete Rechtsfrage gar nicht stellt.
Der Rechtsansicht des Berufungsgerichts, wonach der Erstbeklagte nicht verpflichtet war, schon lange vor dem Erreichen des Kreuzungsbereichs den Querverkehr durch nach links und rechts ausschweifende Blicke zu beobachten, setzt die Klägerin nichts entgegen. Sie verweist aber darauf, dass der Erstbeklagte den Radfahrer durch einen einfachen Blick nach links irgendwann im Zeitraum von über 9 Sekunden wahrnehmen hätte können. Soweit sie mit Jud iZm Reaktionsverspätung argumentiert, ist darauf hinzuweisen, dass der Erstbeklagte, der den Radfahrer vor der Kollision gar nicht gesehen hat, keine Reaktionsverzögerung, sondern einen Beobachtungsfehler verantwortet.
Ob ein Beobachtungsfehler den Vorwurf grober Fahrlässigkeit bedeutet, hängt nach der Rsp des OGH von den Umständen des Einzelfalls ab, wobei selbst Rotlichtverstöße nicht generell grobe Fahrlässigkeit begründen. Der OGH hat das Fehlverhalten eines Fahrzeuglenkers, der beim Überfahren einer ungeregelten Kreuzung mit unverminderter Geschwindigkeit einen bevorrangten PKW übersehen hat, als bloß leicht fahrlässig beurteilt. Auch die Rechtsansicht, wonach das Übersehen einer Fußgängers auf einem Schutzweg keine grobe Fahrlässigkeit begründet, wenn dessen Erkennbarkeit durch Dunkelheit und Nässe herabgesetzt war, ist nach Ansicht des OGH vom Beurteilungsspielraum der Gerichte gedeckt.
Demgegenüber nimmt der OGH grobe Fahrlässigkeit an, wenn eine Ampelanlage gänzlich außer Acht gelassen wurde. Entsprechendes gilt, wenn ein Fahrzeuglenker einen unbeschrankten Bahnübergang überquert, ohne sich in irgendeiner Weise darüber zu vergewissern, ob ein Zug herannaht. Den Feststellungen des Erstgerichts lässt sich nicht entnehmen, ob sich der Erstbeklagte, bevor er in den Kreuzungsbereich einfuhr, in irgendeiner Weise vergewissert hat, ob dies gefahrlos möglich ist.
Ein gänzliches Missachten des Vorrangs, etwa weil der Erstbeklagte ohne nach links zu blicken in die Kreuzung eingefahren ist, würde jedenfalls den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit begründen und den Zuspruch von Trauerschmerzengeld rechtfertigen. Das Fehlen diesbezüglicher Feststellungen erfordert die Aufhebung der Entscheidung der Vorinstanzen über das Trauerschmerzengeld. Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht Feststellungen dazu treffen müssen, ob sich der Erstbeklagte vor dem Einfahren in den Kreuzungsbereich in irgendeiner Weise vergewissert hat, ob dies gefahrlos möglich ist.