16.04.2024 Verfahrensrecht

OGH: Einstweilige Verfügung gem § 382b und § 382c EO

Selbsthilfe (dh, eigenmächtige Herstellung eines dem Recht entsprechenden Zustands) ist im Allgemeinen nicht gestattet; der Staatsbürger hat sich sein Recht nicht selbst zu nehmen, sondern es bei einer Behörde zu suchen; wenn die Hilfe der Behörde zu spät käme und wenn die Grenzen des Angemessenen eingehalten werden (dh, wenn die durch die Rechtsverletzung bedingte Rechtsgutsverletzung zum Werte des durchgesetzten Rechts in einem angemessenen Verhältnis steht), kann Selbsthilfe gerechtfertigt sein


Schlagworte: Exekutionsverfahren, Familienrecht, einstweilige Verfügung, Schutz vor Gewalt in Wohnungen, allgemeiner Schutz vor Gewalt, Selbsthilfe
Gesetze:

 

§ 382b EO, § 382c EO, § 19 ABGB

 

GZ 7 Ob 22/24x, 06.03.2024

 

OGH: Für die Beurteilung der Unzumutbarkeit des Zusammenlebens nach § 382b EO [Schutz vor Gewalt in Wohnungen] – ebenso wie jene des Zusammentreffens nach § 382c EO [Allgemeiner Schutz vor Gewalt] – maßgeblich sind Ausmaß, Häufigkeit und Intensität der bereits – auch schon länger zurückliegenden – angedrohten oder gar verwirklichten Angriffe sowie bei – ernst gemeinten und als solche verstandenen – Drohungen die Wahrscheinlichkeit deren Ausführung. Nach stRsp entspricht jeder körperliche Angriff und jede ernsthafte und substantielle Drohung mit einem solchen dem Unzumutbarkeitserfordernis. Es genügt also grundsätzlich schon ein effektiver physischer Angriff oder die Drohung damit. Neben einem körperlichen Angriff oder der Drohung mit einem solchen ermöglicht auch ein sonstiges Verhalten („Psychoterror“) derartige Maßnahmen, wenn es eine Schwere erreicht, die die strenge Maßnahme der einstweiligen Verfügung angemessen erscheinen lässt.

 

Selbsthilfe (dh, eigenmächtige Herstellung eines dem Recht entsprechenden Zustands) ist im Allgemeinen nicht gestattet. Der Staatsbürger hat sich sein Recht nicht selbst zu nehmen, sondern es bei einer Behörde zu suchen. Wenn die Hilfe der Behörde zu spät käme und wenn die Grenzen des Angemessenen eingehalten werden (dh, wenn die durch die Rechtsverletzung bedingte Rechtsgutsverletzung zum Werte des durchgesetzten Rechts in einem angemessenen Verhältnis steht), kann Selbsthilfe gerechtfertigt sein.

 

Die Antragstellerin wurde vom Antragsgegner bereits seit Jahren wiederholt gestoßen und geschlagen, wodurch sie Verletzungen erlitt (blaue Flecken, aufgeplatzte Lippe). Als sie bei einem dieser Vorfälle die Wohnung verlassen wollte, stellte der Antragsgegner sich ihr in den Weg, schleifte sie zurück in die Wohnung und sperrte sie ein. Der Antragsgegner, der den Zeugen Jehovas beigetreten war, setzt die Antragstellerin immer wieder unter psychischen Druck, indem er ihr Feiern und das Tragen von Röcken verbot. Als die Antragstellerin ihm ihren endgültigen Trennungswunsch mitteilte, stieß er sie gegen das Bett, hielt sie fest und bedrohte sie mit dem Umbringen. Seit Beginn des Scheidungsverfahrens schreibt der Antragsgegner der Antragstellerin bis zu zehn Nachrichten am Tag; er kommt auch nach seinem Auszug immer wieder unangemeldet in die Wohnung, um die privaten Sachen der Antragstellerin zu durchwühlen und sich Zugriff auf ihren Computer und Zugang zu ihren privaten Unterlagen zu verschaffen.

 

Am 21. 10. 2023 fand die Antragstellerin bei den Sachen der Kinder einen Kalender des Antragsgegners, in dem er ihre Tätigkeiten fortlaufend dokumentierte, woraus ersichtlich wurde, dass er sie ständig verfolgte und beobachtete. Während eines Telefonats mit dem Sohn erfuhr er, dass die Antragstellerin den Kalender gerade fotografierte. Kurze Zeit später stürzte er aggressiv in die Wohnung, schrie, stieß die Antragstellerin gegen die Couch und fixierte sie mit seinem Körpergewicht, riss ihr das Handy aus der Hand und verließ mit diesem die Wohnung. Nachdem er es auf Werkseinstellungen zurückgesetzt hatte, legte er es in das Postfach der Antragstellerin.

 

Die Beurteilung des Rekursgerichts, von einer Angemessenheit der Vorgangsweise iZm der Abnahme des Handys könne keinesfalls die Rede sein, weshalb schon aus diesem Grund keine zulässige Selbsthilfe vorliege, ist nicht korrekturbedürftig. Damit erübrigt sich ein Eingehen auf die weitwendigen Ausführungen des Antragsgegners, ob das Fotografieren des – behauptetermaßen sensiblen Daten des Antragsgegners beinhaltenden – Kalenders eine unrechtmäßige Verarbeitung personenbezogener Daten iSd Art 5 und 6 DSGVO darstellt. Darüber hinaus ignoriert der Antragsgegner im Übrigen auch die weitere – gleichfalls nicht zu beanstandende – Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass bereits die festgestellten Bedrohungen, die wiederholte – teilweise massive – Gewaltanwendung, die Ausübung von psychischem Druck und die Überwachung des persönlichen Lebensbereichs der Antragstellerin die Erlassung der beantragten einstweiligen Verfügung rechtfertige.