06.02.2024 Zivilrecht

OGH: „Verfolgungsschäden“ iZm einer Vorführung nach § 9 UbG

Der Beklagte hatte seine Flucht beendet und gegenüber den Beamten weder Gewalt ausgeübt, noch solche angedroht (§ 269 StGB); der Kläger verletzte sich nicht, weil der Beklagte eine gesteigerte Gefahrensituation geschaffen hat, die über das gewöhnliche Berufsrisiko eines Polizisten in einer solchen Situation hinausgeht, sondern weil der Beklagte infolge der vom Kläger (und seinem Kollegen) vorgenommenen Armwinkelsperre stürzte und der Kläger versuchte, ihn vor dem Aufprall auf dem Boden aufzufangen; die einzelfallbezogene Verneinung der Haftung des Beklagten durch das Berufungsgericht ist somit jedenfalls im Ergebnis nicht korrekturbedürftig


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Unterbringungsrecht, Vorführung durch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, Verfolgungsschäden, Sturz, gesteigerte Gefahrensituation, gewöhnliches Berufsrisiko
Gesetze:

 

§§ 1295 ff ABGB, § 9 UbG

 

GZ 10 Ob 39/23t, 19.12.2023

 

OGH: Die Gefährdung absolut geschützter Rechte – zu denen auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit gehört – ist grundsätzlich verboten. Daraus ergeben sich Sorgfaltspflichten, die denjenigen treffen, der die Gefahr erkennen und die erforderlichen Schutzmaßnahmen ergreifen kann, also jenen, der die Gefahr beherrscht. Wer demnach eine Gefahrenquelle schafft oder in seiner Sphäre bestehen lässt, muss die notwendigen und ihm zumutbaren Vorkehrungen treffen, um eine Schädigung anderer nach Tunlichkeit abzuwenden.

 

Die Rechtswidrigkeit eines schädigenden Verhaltens wird bei der Verletzung absolut geschützter Rechtsgüter im Wege einer umfassenden Interessenabwägung geprüft, bei der insbesondere zu berücksichtigen ist, welche Verhaltenspflichten die Beteiligten (insbesondere der Schädiger) erfüllen können bzw ihnen zumutbar sind, ob das in Frage stehende Verhalten ex ante geeignet war, den schädigenden Erfolg (wahrscheinlich) herbeizuführen, sowie welcher Wert den bedrohten Rechtsgütern und Interessen zukommt.

 

Stets entscheiden die Umstände des Einzelfalls, in welche Richtung die Interessenabwägung ausfällt. Eine die Revision dennoch rechtfertigende Unvertretbarkeit der vom Berufungsgericht vorgenommenen Interessenabwägung zeigt der Revisionswerber im konkreten Fall nicht auf.

 

Gem § 9 Abs1 UbG in der hier anzuwendenden Fassung BGBl I 2010/18 (aF) sind die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes berechtigt und verpflichtet, eine Person, bei der sie aus besonderen Gründen die Voraussetzungen der Unterbringung für gegeben erachten, zur Untersuchung zum Arzt (§ 8 UbG) zu bringen oder diesen beizuziehen. Bescheinigt der Arzt das Vorliegen der Voraussetzungen der Unterbringung, so haben die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes die betroffene Person in eine psychiatrische Abteilung zu bringen oder dies zu veranlassen (vgl nunmehr § 9 Abs 1 und 2 UbG idgF BGBl I 2022/147). Der Arzt und die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes haben gem § 9 Abs 3 UbG aF unter möglichster Schonung der betroffenen Person vorzugehen und die notwendigen Vorkehrungen zur Abwehr von Gefahren zu treffen (vgl § 9 Abs 4 Satz 1 UbG idgF).

 

Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes dürfen die Vorführung nötigenfalls mit unmittelbarer Zwangsgewalt durchsetzen (§ 9 Abs 4 Satz 2 UbG). Dies war auch nach der am 20. 8. 2021 anwendbaren Rechtslage der Fall (§ 50 Abs 1 SPG, damals noch idF BGBl I 2016/61). Die Rechtslage hat sich nur insofern verändert, als der Gesetzgeber die Mitwirkung der Polizei an Unterbringungen mit der UbG-IPRG-Nov 2022, BGBl I 2022/147, abschließend im UbG regeln wollte. In den Gesetzesmaterialien wies der Gesetzgeber in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin, „dass bei der Ausübung unmittelbarer Zwangsgewalt auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besonders Bedacht zu nehmen ist. Die konkrete Maßnahme muss geeignet und unbedingt notwendig sein und es darf nur das gelindeste zum Ziel führende Mittel angewendet werden.“.

 

Der Revisionswerber macht geltend, dass auch der passive Widerstand einer unterzubringenden Person gegen ihre Festnahme durch eine dazu einsatzbefugte Person wie den Kläger als von der Allgemeinheit missbilligt angesehen werde. Bei der Durchführung von Maßnahmen unter Einsatz von Körperkraft bestehe offenkundig immer eine mit Verletzungsgefahr verbundene erhöhte Gefahrenlage.

 

Selbst wenn man aber hier davon ausginge, dass das Verhalten des Beklagten von der Rechtsordnung verpönt wäre und dass die vom Kläger und seinem Kollegen gewählte Vorgangsweise der Festnahme durch Anlegen von Handfesseln auf dem Rücken des Beklagten nach den Umständen des Falls das gelindeste zum Ziel führende Mittel iSd § 9 Abs 3 UbG aF war, so fehlt es im konkreten Fall an der Schaffung einer gesteigerten Gefahrensituation durch den Beklagten, die deutlich über das allgemeine Berufsrisiko eines Polizisten hinausginge (die ältere Rsp spricht von „allgemeinem Lebensrisiko“). Nach der Rsp begründet nicht einmal jede Flucht eines einer Straftat Verdächtigen per se eine Haftung für Schäden der ihn berechtigt – im Fall eines Polizisten: verpflichtend – verfolgenden Person, sondern nur eine solche, die für den Flüchtenden erkennbar mit einer gesteigerten Gefährdung der absolut geschützten Rechtsgüter des Verfolgers verbunden ist (zB überraschendes Weglaufen in die Dunkelheit auf rasch wechselndem und teilweise unebenem Untergrund; unerwartete plötzliche Flucht nach zunächst vorgegebener Kooperationsbereitschaft und Vortäuschung gesundheitlicher Beschwerden; schnelles Nachrennen entlang einer Baustellenabgrenzung; Verfolgungsjagd mit Pkw im Ortsgebiet mit „mindestens“ 120 km/h; Verfolgung auf dem Gelände eines Gärtnereibetriebs in der Dunkelheit und Sturz über eine ungesicherte Stützmauer).

 

Hier hatte der Beklagte hingegen seine Flucht beendet und gegenüber den Beamten weder Gewalt ausgeübt, noch solche angedroht (§ 269 StGB). Der Kläger verletzte sich nicht, weil der Beklagte eine gesteigerte Gefahrensituation geschaffen hat, die über das gewöhnliche Berufsrisiko eines Polizisten in einer solchen Situation hinausgeht, sondern weil der Beklagte infolge der vom Kläger (und seinem Kollegen) vorgenommenen Armwinkelsperre stürzte und der Kläger versuchte, ihn vor dem Aufprall auf dem Boden aufzufangen.

 

Die einzelfallbezogene Verneinung der Haftung des Beklagten durch das Berufungsgericht ist somit jedenfalls im Ergebnis nicht korrekturbedürftig.