10.12.2023 Fremdenrecht

VwGH: Inlandsantragstellung iSd § 21 Abs 3 Z 2 NAG

Für die Prüfung des Vorliegens der Voraussetzung des § 21 Abs 3 Z 2 NAG ist die Rsp zur Interessenabwägung nach § 11 Abs 3 NAG bzw Art 8 EMRK maßgeblich


Schlagworte: Niederlassungs- und Aufenthaltsrecht, Verfahren bei Erstanträgen, Inlandsantragstellung, Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens, Interessenabwägung
Gesetze:

 

§ 21 NAG, § 11 NAG, Art 8 EMRK

 

GZ Ra 2022/22/0029, 05.10.2023

 

VwGH: Aus § 21 Abs 3 Z 2 NAG ergibt sich, dass die Inlandsantragstellung - abweichend vom Gebot der Auslandsantragstellung gem § 21 Abs 1 NAG - auf begründeten Antrag dann zugelassen werden kann, wenn - ausnahmsweise, nämlich für den (dann gegebenen) Fall der Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Ausreise des Fremden - ein aus Art 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht. Bei der vorzunehmenden Beurteilung nach Art 8 EMRK ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an der Versagung eines Aufenthaltstitels mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der im § 11 Abs 3 NAG genannten Kriterien in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Ausgehend davon ist für die Prüfung des Vorliegens der Voraussetzung des § 21 Abs 3 Z 2 NAG die Rsp zur Interessenabwägung nach § 11 Abs 3 NAG bzw Art 8 EMRK maßgeblich.

 

Nach stRsp des VwGH ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung iSd Art 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rsp entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel iSd Art 133 Abs 4 B-VG. Die durch das VwG durchgeführte Interessenabwägung iSd Art 8 EMRK ist vom VwGH nur dann aufzugreifen, wenn das VwG die vom VwGH aufgestellten Leitlinien und Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse und unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat. Eine Unvertretbarkeit der Interessenabwägung hätte somit zur Folge, dass es weder auf die Frage der Unzulässigkeit der Inlandsantragstellung noch auf die Frage des Vorliegens ausreichender Unterhaltsmittel ankäme.

 

Eine derartige Unvertretbarkeit der verwaltungsgerichtlichen Abwägung liegt im gegenständlichen Fall vor, weil das VwG die Rsp des VwGH zur besonderen Bedeutung eines (mehr als) zehnjährigen Inhaltsaufenthaltes nicht hinreichend beachtet hat. Diese Rsp wurde vom VwGH wiederholt auch auf Fälle übertragen, in denen die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag.

 

Vorliegend hielt sich die Revisionswerberin (bemessen vom Beginn der Gültigkeit des ersten Aufenthaltstitels) bis zur Abweisung ihres letztmaligen Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung „Studierender“ rund sechs Jahre und sieben Monate rechtmäßig im Inland auf. Daran schloss bis zum nunmehr angefochtenen Erkenntnis ein weiterer (nach Ansicht des VwG unrechtmäßiger) Aufenthalt von etwas mehr als drei Jahren an. Demzufolge war die Revisionswerberin - im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt - jedenfalls mehr als neuneinhalb Jahre - davon die überwiegende Zeit rechtmäßig - im Inland aufhältig.

 

Darüber hinaus stellte das VwG ua fest, dass die Revisionswerberin unbescholten sei, über sehr gute Deutschkenntnisse verfüge, enge Beziehungen zu ihrem Ehemann sowie zu Freunden und Bekannten aufgebaut und sich durch Nebenbeschäftigungen während des Studiums integriert habe. Angesichts dieser integrationsbegründenden Umstände iVm dem langjährigen - überwiegend rechtmäßigen - Inlandsaufenthalt vermag der VwGH die Auffassung des VwG, dass die im Rahmen des § 21 Abs 3 Z 2 bzw des § 11 Abs 3 NAG vorzunehmende Interessenabwägung zulasten der Revisionswerberin auszugehen habe, nicht zu teilen.