24.10.2023 Zivilrecht

OGH: Unabwendbares Ereignis – zur gebotenen Sorgfalt iSd § 9 Abs 2 EKHG

Wenn das Berufungsgericht in der konkreten Situation unter Hinweis auf die Dunkelheit und die mehrfachen Warnungen des anderen Fahrzeuglenkers davon ausgegangen ist, dass ein besonders umsichtiger Lenker seine Fahrt im Nahebereich des angehaltenen Fahrzeugs selbst mit Schrittgeschwindigkeit nicht fortgesetzt hätte, ohne die befahrene Strecke einsehen zu können, stellt dies keine aufzugreifende Fehlbeurteilung dar


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Gefährdungshaftung, unabwendbares Ereignis, gebotene Sorgfalt, Dunkelheit, Blendung, Schrittgeschwindigkeit, mehrfache Warnungen, Selbstmordabsicht
Gesetze:

 

§ 9 EKHG

 

GZ 2 Ob 152/23a, 19.09.2023

 

Die Klägerin legte sich im Februar 2020 gegen 5:15 Uhr in Selbstmordabsicht quer zur Fahrbahnlängsrichtung auf die N* Landesstraße und wurde vom von der Erstbeklagten gehaltenen und gelenkten, bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten PKW überrollt und lebensgefährlich verletzt. Vor dem Unfall hatte ein der Erstbeklagten entgegenkommender Fahrzeuglenker neben der Klägerin mit eingeschaltetem Abblendlicht und Warnblinkanlage angehalten. Als er die sich auf der Fahrbahnhälfte der Klägerin nähernde Erstbeklagte bemerkte, betätigte er mehrmals die Lichthupe, um diese zu warnen. Die Erstbeklagte, die bei Annäherung durch die Lichthupe und das Abblendlicht mehrfach geblendet war, was eine Readaptionszeit des Auges von drei bis vier Sekunden zur Folge hatte, ging von einer Panne oder einem Wildschaden aus. Sie verlangsamte ihren PKW auf Schrittgeschwindigkeit, nahm mit dem anderen Fahrzeuglenker Blickkontakt auf und überrollte schließlich die hinter dem Lichtkegel des anderen Fahrzeugs liegende und daher für sie nicht erkennbare Klägerin.

 

OGH: Die Sorgfalt iSd § 9 Abs 2 EKHG ist nicht die gewöhnliche Verkehrssorgfalt, sondern die äußerste, nach den Umständen des Falls mögliche Sorgfalt. Sie ist dann beachtet, wenn der Fahrzeuglenker eine über die gewöhnliche Sorgfaltspflicht hinausgehende, besonders überlegene Aufmerksamkeit, Geistesgegenwart und Umsicht gezeigt hat, die zB auch die Rücksichtnahme auf eine durch die Umstände nahegelegte Möglichkeit eines unrichtigen oder ungeschickten Verhaltens anderer gebietet. Maßstab für die Sorgfaltspflicht nach § 9 Abs 2 EKHG ist die Sorgfalt eines sachkundigen, erfahrenen Kraftfahrers. Er haftet daher auch für einen Mangel der besonders geschärften Aufnahmefähigkeit für rasche Eindrücke.

 

Der Umfang der gem § 9 Abs 2 EKHG gebotenen Sorgfalt hängt von den besonderen Umständen des Einzelfalls ab.

 

Wenn das Berufungsgericht in der konkreten Situation unter Hinweis auf die Dunkelheit und die mehrfachen Warnungen des anderen Fahrzeuglenkers davon ausgegangen ist, dass ein besonders umsichtiger Lenker seine Fahrt im Nahebereich des angehaltenen Fahrzeugs selbst mit Schrittgeschwindigkeit nicht fortgesetzt hätte, ohne die befahrene Strecke einsehen zu können, stellt dies keine aufzugreifende Fehlbeurteilung dar.

 

Auf die zu § 20 Abs 1 StVO ergangene, vom Berufungsgericht auch zitierte Rsp, nach der durch entgegenkommende Kraftfahrzeuge geblendete Fahrer nach dem Grundsatz des „Fahrens auf Sicht“ ihre Fahrgeschwindigkeit radikal herabzusetzen, allenfalls anzuhalten haben, kommt es nicht an. Einerseits gingen die Vorinstanzen ohnehin nicht von einer Verschuldenshaftung aufgrund eines Verstoßes gegen § 20 Abs 1 StVO aus. Andererseits führt die Einhaltung der gewöhnlichen Verkehrssorgfalt noch nicht zur Haftungsbefreiung nach § 9 Abs 2 EKHG.