19.09.2023 Verfahrensrecht

OGH: § 107 Abs 2 AußStrG – zur einstweiligen Obsorge

Solange mangels ausreichender Tatsachengrundlage das Für und Wider der ins Auge gefassten vorläufigen Maßnahme nicht abgewogen werden kann, kann auch nicht beurteilt werden, ob diese das Kindeswohl tatsächlich fördert oder nicht doch eher gefährdet


Schlagworte: Außerstreitverfahren, Familienrecht, einstweilige Obsorge, Anordnung, Entzug, Gefährdung, Förderung, Kindeswohl, Zukunftsprognose, Wechsel des Aufenthalts, Abwägung
Gesetze:

 

§ 107 AußStrG

 

GZ 1 Ob 107/23a, 24.08.2023

 

OGH: Nach § 107 Abs 2 AußStrG kann das Gericht die Obsorge und die Ausübung des Rechts auf persönliche Kontakte nach Maßgabe des Kindeswohls auch vorläufig einräumen oder entziehen. Gem § 107 Abs 2 S 3 AußStrG kommt einer solchen Regelung bereits ex lege vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zu, sofern das Gericht diese nicht ausschließt. Nach dem Willen des Gesetzgebers hat das Gericht eine solche vorläufige Entscheidung nach § 107 Abs 2 AußStrG schon dann zu treffen, wenn zwar für die endgültige Regelung noch weitergehende Erhebungen (etwa die Einholung oder Ergänzung eines Sachverständigengutachtens) notwendig sind, aber eine rasche Regelung der Obsorge oder der persönlichen Kontakte für die Dauer des Verfahrens Klarheit schafft und dadurch das Kindeswohl fördert. Die Voraussetzungen für die Erlassung vorläufiger Maßnahmen sind idS reduziert, dass diese nicht erst bei akuter Gefährdung des Kindeswohls, sondern bereits zu dessen Förderung erfolgen dürfen. Auch eine solche Entscheidung erfordert allerdings eine ausreichende Tatsachengrundlage.

 

Im vorliegenden Fall steht zwar fest, dass die von der Mutter herbeigeführte Entfremdung der Tochter zum Vater das Kindeswohl gefährdet. Es fehlen aber jegliche Feststellungen, die eine Beurteilung der Frage erlauben, ob die Nachteile und Gefahren der Aufrechterhaltung der bisherigen Verhältnisse für das Kindeswohl eindeutig jene übersteigen, die mit dem Wechsel des Aufenthalts notwendigerweise einhergehen.

 

Der erstinstanzlichen Feststellung, dass ein hauptsächlicher Aufenthalt der Tochter beim Vater „weniger gefährdend“ als ein weiterer Aufenthalt bei der Mutter sei, kann keine Aussage darüber entnommen werden, wie sich ein (erzwungener) Wechsel in den Haushalt des Vaters auf das Kind, dessen psychische Situation und dessen Entwicklung auswirken würde. Solange mangels ausreichender Tatsachengrundlage das Für und Wider der ins Auge gefassten vorläufigen Maßnahme nicht abgewogen werden kann, kann auch nicht beurteilt werden, ob diese das Kindeswohl tatsächlich fördert oder nicht doch eher gefährdet. Das Erstgericht wird daher nach einer Ergänzung des Verfahrens Feststellungen zu treffen haben, die eine Zukunftsprognose ermöglichen, wie sich der Aufenthaltswechsel und die Unterbringung der Tochter bei ihrem Vater auf sie auswirken könnte. IdZ wird zu beachten sein, dass Obsorgeentscheidungen zukunftsbezogene Rechtsgestaltungen und nur dann sachgerecht sind, wenn sie auf aktueller bis in die jüngste Gegenwart reichender Tatsachengrundlage beruhen. Deshalb ist eine Entscheidung, die etwa auf einer veralteten Gutachtenserstellung beruht, problematisch.