OGH: § 4 HeimAufG und zur Auslegung des Begriffs „psychisch krank” (hier: kurzzeitiges Einsperren einer Neunjährigen in ihrem Zimmer)
Ist es nicht eindeutig, dass die bei einem Bewohner festgestellten Verhaltensweisen auch Ausdruck einer psychischen Krankheit sind, dann sind nach Einholung eines für die Beantwortung dieser Frage berufenen Sachverständigen Feststellungen darüber zu treffen, nach welchen Kriterien in der medizinischen Wissenschaft das Vorliegen einer psychischen Krankheit beurteilt wird, wobei gegebenenfalls mehrere in ihrer Bedeutung nicht ganz zu vernachlässigende Richtungen darzustellen sind und zu klären ist, nach welcher dieser Richtungen die Verhaltensweisen, die beim Bewohner festgestellt wurden, die Annahme einer psychischen Krankheit rechtfertigen würden; erst nach Vorliegen solcher Feststellungen kann das Gericht beurteilen, welche dieser Kriterien für die Annahme einer psychischen Krankheit iSv § 4 Z 1 HeimAufG maßgebend sind und ob die betreffende Person daran leidet
§ 3 HeimAufG, § 4 HeimAufG
GZ 7 Ob 34/23k, 24.05.2023
Am 29. Dezember 2020 kam es bei der Bewohnerin vermutlich aufgrund eines Konflikts mit einem Mitbewohner zu einem Impulsausbruch. Die Bewohnerin hatte eine Scherbe in der Hand und ließ sich von der Betreuerin verbal nicht beruhigen. Es bestand die Gefahr, dass sie sich selbst oder den Mitbewohner, den sie mit dem Umbringen bedrohte, verletze. Deshalb erachtete eine Betreuerin die Trennung der Bewohnerin von der Gruppe durch kurzzeitiges Einschließen in deren Zimmer für erforderlich, um die Gefahr für die anderen Bewohner der Wohngemeinschaft abzuwenden. Allerdings wurde die Minderjährige, die die Scherbe bei sich hatte, gemeinsam mit einer anderen Bewohnerin in das Zimmer eingeschlossen und dabei nicht lückenlos beaufsichtigt. Nach kurzer Zeit wurde das Zimmer wieder aufgesperrt, weil sich die Bewohnerin in der Zwischenzeit beruhigt hatte.
Durch das gemeinsame Einschließen der beiden Minderjährigen in einem Zimmer bestand die Gefahr, dass die Bewohnerin die andere Minderjährige verletzen wird. Die Dauer des Einschließens im Zimmer war angemessen, eine dauernde Aufsicht währenddessen wäre aber erforderlich gewesen.
OGH: Nach § 3 Abs 1 HeimAufG liegt eine Freiheitsbeschränkung iS dieses Bundesgesetzes vor, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person (Bewohner) gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Zwangsmaßnahmen, insbesondere durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen oder durch deren Anordnung unterbunden wird. Eine Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit liegt immer dann vor, wenn es einer Person unmöglich gemacht wird, ihren Aufenthalt nach ihrem freien Willen zu verändern. Dabei kommt es nur darauf an, ob der Bewohner nach den konkreten Verhältnissen den Bereich, in dem er sich aufhält, aufgrund seiner freien Entscheidung verlassen kann oder nicht.
Da die Bewohnerin kurzzeitig in einem Zimmer eingesperrt wurde, liegt ohne Zweifel eine Freiheitsbeschränkung iSv § 3 Abs 1 HeimAufG vor.
Mit dem 2. ErwSchG wurde in § 3 Abs 1a HeimAufG normiert, dass alterstypische Freiheitsbeschränkungen an Minderjährigen keine Freiheitsbeschränkungen iSd HeimAufG sind. Für die Alterstypizität ist als Orientierungshilfe darauf abzustellen, ob ein psychisch gesundes Kind von sorgsamen, verständigen Eltern in derselben Situation derselben Freiheitsbeschränkung unterworfen werden würde. Falls ja, liegt tendenziell eine alterstypische Maßnahme vor. Dazu gehören etwa Gitterbetten bei Säuglingen, das Angurten eines Kleinkindes im Kinderwagen oder das Festhalten eines Kleinkindes zur Abwehr einer unmittelbar drohenden Gefahr.
Entgegen der Ansicht der Einrichtungsleiter stellt das kurzzeitige Einsperren der damals neunjährigen Bewohnerin in ihrem Zimmer keine alterstypische Freiheitsbeschränkung dar, weil diese Maßnahme deutlich über eine bloße Erziehungsmaßnahme, wie etwa wenn ein Kind zum Hausaufgaben erledigen auf das Zimmer geschickt wird, hinausgeht. Die Vorinstanzen haben die hier vorliegende Freiheitsbeschränkung an der Bewohnerin daher zu Recht auf ihre Zulässigkeit gem § 4 HeimAufG beurteilt.
Nach § 4 HeimAufG darf eine Freiheitsbeschränkung nur vorgenommen werden, wenn
1. der Bewohner psychisch krank oder geistig behindert ist und im Zusammenhang damit sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben oder die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet,
2. sie zur Abwehr dieser Gefahr unerlässlich und geeignet sowie in ihrer Dauer und Intensität im Verhältnis zur Gefahr angemessen ist sowie
3. diese Gefahr nicht durch andere Maßnahmen, insbesondere schonendere Betreuungs- oder Pflegemaßnahmen, abgewendet werden kann.
Materiell-rechtliche Voraussetzung der Zulässigkeit einer Freiheitsbeschränkung ist zunächst das Vorliegen einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung (§ 4 Z 1 HeimAufG).
Für die Auslegung des unbestimmten Gesetzesbegriffs „psychisch krank“ sind in erster Linie die Regeln der medizinischen Wissenschaft und somit Erfahrungssätze maßgebend. Wesentlich ist das Vorliegen von Symptomen einer psychischen Erkrankung.
Ist es nicht eindeutig, dass die bei einem Bewohner festgestellten Verhaltensweisen auch Ausdruck einer psychischen Krankheit sind, dann sind – wie hier – nach Einholung eines für die Beantwortung dieser Frage berufenen Sachverständigen Feststellungen darüber zu treffen, nach welchen Kriterien in der medizinischen Wissenschaft das Vorliegen einer psychischen Krankheit beurteilt wird, wobei gegebenenfalls mehrere in ihrer Bedeutung nicht ganz zu vernachlässigende Richtungen darzustellen sind und zu klären ist, nach welcher dieser Richtungen die Verhaltensweisen, die beim Bewohner festgestellt wurden, die Annahme einer psychischen Krankheit rechtfertigen würden. Erst nach Vorliegen solcher Feststellungen kann das Gericht beurteilen, welche dieser Kriterien für die Annahme einer psychischen Krankheit iSv § 4 Z 1 HeimAufG maßgebend sind und ob die betreffende Person daran leidet.
Nach den Feststellungen zeigten sich bei der Bewohnerin Ende des Jahres 2020 immer wieder Impulsdurchbrüche, Auto- und Fremdaggression und dissoziative Zustände. Aus fachlich-psychiatrischer Sicht leidet sie an einer Traumafolgestörung, im Dezember 2020 war ein Krankheitswert vorhanden. Sie litt damals an einer klinisch relevanten posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1). Die Bewohnerin war daher im fraglichen Zeitraum psychisch krank iSv § 4 Z 1 HeimAufG, weil ihre Störung krankheitswertig war und ihre Verhaltenssteuerung beeinträchtigte. Sekundäre Feststellungsmängel liegen in diesem Zusammenhang nicht vor.
Angesichts des Umstands, dass die Bewohnerin im Zuge eines Impulsdurchbruchs mit einer Scherbe in der Hand einen Mitbewohner mit dem Umbringen bedrohte, lag auch eine ernstliche (konkrete) und erhebliche Gefährdung von dessen Gesundheit vor.
Es besteht auch kein Zweifel, dass zwischen der psychischen Krankheit der Bewohnerin und ihrem fremdgefährdenden Verhalten ein Kausalzusammenhang besteht, war doch ein zum Krankheitsbild gehörender Impulsausbruch der Auslöser für die massive Bedrohung ihres Mitbewohners.
Dass die von der Einrichtung getroffene Maßnahme zur Gefahrenabwehr ungeeignet (§ 4 Z 2 HeimAufG) war, bestreiten die Revisionsrekurswerber zu Recht nicht mehr.
Die Vorinstanzen haben daher die an der Bewohnerin vorgenommene freiheitsbeschränkende Maßnahme zutreffend gem § 19a HeimAufG für nachträglich unzulässig erklärt.