20.06.2023 Verfahrensrecht

OGH: Zum Verfahren nach dem HKÜ

Ein Mangel des erstgerichtlichen Verfahrens, welcher in der Berufung nicht beanstandet wurde, kann in der Revision nicht mehr geltend gemacht werden; in Obsorge-, Kontaktregelungs- und Rückführungsverfahren nach dem HKÜ kann diese Regel in Fällen der Gefährdung des Kindeswohls durchbrochen werden


Schlagworte: Internationale Kindesentführung, Ablehnung der Rückführung, Rekurs, Verfahrensmangel, Geltdendmachung, Revisionsrekurs, Gefährdung, entsprechende Vorkehrungen
Gesetze:

 

Art13 HKÜ, § 15 AußStrG, § 66 AußStrG, § 503 ZPO, Art 27 Brüssel IIb-VO

 

GZ 6 Ob 100/23h, 02.06.2023

 

OGH: Steht wie hier fest, dass der Wechsel nach Frankreich „unweigerlich zu einer schweren Entwicklungsstörung sowie zu einer Gefährdung der Entwicklung der persönlichen Integrität“ des Minderjährigen führen würde, dann ist die Ansicht der Vorinstanzen, darin liege ein Rückführungshindernis iSd Art 13 Abs 1 lit b HKÜ, im Einzelfall nicht korrekturbedürftig. Weiters steht fest, dass angemessene Vorkehrungen zum Schutz des Minderjährigen nach seiner Rückkehr nach Frankreich im gegenständlichen Fall nicht gewährleistet sind und sich auch bei einer dauerhaften Rückkehr des Minderjährigen gemeinsam mit der Mutter dessen psychische Belastung derart ausprägen würde, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Intensivierung und stärkeren Chronifizierung der traumatischen und angstneurotischen Symptome käme, welche letztendlich Krankheitswert erreichen würden.

 

Im Rekurs hat der Vater gar nicht bemängelt, dass das Erstgericht die Möglichkeit des Bestehens angemessener Vorkehrungen nicht ausreichend geprüft habe. Ein Mangel des erstgerichtlichen Verfahrens, welcher im Rekurs nicht beanstandet wurde, kann im Revisionsrekurs grundsätzlich nicht mehr geltend gemacht werden. Diese Regel kann zwar in Obsorge-, Kontaktregelungs- und Rückführungsverfahren nach dem HKÜ in Fällen der Gefährdung des Kindeswohls durchbrochen werden, eine entsprechende Gefährdung des Kindeswohls durch Verbleib in Österreich wird vom Rechtsmittelwerber aber nicht behauptet, sondern wendet sich dieser vielmehr „nur“ gegen die Verletzung des Sorgerechts und des bei ihm gelegenen gewöhnlichen Aufenthalts.

 

Der Vater wirft zwar dem Rekursgericht vor, dieses hätte insoweit von sich aus amtswegig tätig werden müssen. Seine Mitwirkungspflicht vernachlässigt er dabei aber, obwohl die ihn als (hier zudem anwaltlich vertretene) Partei treffende Pflicht mit Art 27 Abs 3 Brüssel IIb-VO noch verstärkt hervorgehoben wurde. Im Verfahren erster Instanz hat er lediglich vage auf unkonkretisiert gebliebene „allenfalls entsprechende Vorkehrungen“ verwiesen. Wenn er auch noch im Revisionsrekurs keine einzige konkrete Maßnahme aufzeigen kann (welcher die Eignung zukommen müsste, die von den Vorinstanzen festgestellte akute Gefahr der Gefährdung des konkreten Kindeswohls bei Rückführung nach Frankreich, hintanzuhalten oder wenigstens abmildern zu können), legt er die Relevanz der behaupteten Mangelhaftigkeit (und damit das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage) im Revisionsrekurs nicht dar.