VwGH: Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung
Bei einer widersprüchlichen Beweislage hat das VwG derart grundsätzlich eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen, zumal bei dieser die widersprüchlichen Beweisergebnisse unmittelbar geklärt werden können; das VwG hat auch rechtliches Gehör grundsätzlich im Rahmen einer Verhandlung einzuräumen; bei konkretem sachverhaltsbezogenen Vorbringen ist jedenfalls eine mündliche Verhandlung durchzuführen
§ 24 VwGVG, §§ 37 ff AVG
GZ Ra 2020/11/0003, 06.07.2022
VwGH: Ein VwG hat (selbst bei anwaltlich vertretenen Personen) auch ohne Antrag von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen, wenn es dies für erforderlich hält, wobei die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ohne Parteiantrag nicht im Belieben, sondern im pflichtgemäßen Ermessen des VwG selbst steht. Dies ist etwa dann anzunehmen, wenn die Beweiswürdigung der Verwaltungsbehörde substantiiert bekämpft und / oder ein konkretes sachverhaltsbezogenes Vorbringen erstattet wird. Bei einer widersprüchlichen Beweislage hat das VwG derart grundsätzlich eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen, zumal bei dieser die widersprüchlichen Beweisergebnisse unmittelbar geklärt werden können. Das VwG hat auch rechtliches Gehör grundsätzlich im Rahmen einer Verhandlung einzuräumen. Bei konkretem sachverhaltsbezogenen Vorbringen ist jedenfalls eine mündliche Verhandlung durchzuführen.
Wenn das VwG eine Ergänzung des Ermittlungsverfahrens als geboten ansah und deshalb die Einholung einer weiteren gutachterlichen Stellungnahme durch einen Sachverständigen in Graz veranlasste, so zeigt schon diese Vorgangsweise, dass der entscheidungserhebliche Sachverhalt eben (noch) nicht geklärt war.
Überdies ist der Revisionswerber mit dem vorgelegten Privatgutachten dem Gutachten des behördlichen Sachverständigen auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten und hat im gesamten Verfahrensverlauf konsistent darauf hingewiesen, dass vor der FSME-Impfung keine Entwicklungsverzögerung vorgelegen sei. Hierzu hat die Vertretung des Revisionswerbers auch die Einvernahme des ehemaligen Kinderarztes angeregt sowie auf diverse an die belBeh übermittelte Videos und Fotos (dass diese nicht vorgelegt worden wären, hat das VwG nicht festgestellt) zum Beleg dafür verwiesen, dass der Revisionswerber vor seiner FSME-Impfung an keiner Entwicklungsstörung gelitten habe.
Vor diesem Hintergrund durfte das VwG nicht von einem geklärten Sachverhalt ausgehen, sondern es war die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, in deren Rahmen zweckmäßigerweise die beigezogenen Sachverständigen ihre Gutachten zu erläutern und ergänzende Fragen zu beantworten hätten, geboten.