OGH: Zum Parteiengehör im Provisorialverfahren
Nach dem Grundsatz der Waffengleichheit muss sich jede Partei zu allen Eingaben und Beweismitteln ihres Gegners äußern können; ein Recht des Antragsgegners, auf eine Replik der gefährdeten Partei „duplizieren“ zu können, besteht nur dann, wenn dadurch der Zweck der eV nicht vereitelt wird
§§ 381 ff EO, § 396 EO, Art 6 EMRK
GZ 4 Ob 25/22p, 30.06.2022
OGH: Das Gericht hat nach Art 6 Abs 1 EMRK den Parteien Verfahrensvorgänge, die erkennbar für sie wesentliche Tatsachen betreffen, bekannt zu geben und ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, dazu Stellung zu nehmen. In dringenden Fällen ist zwar weiterhin die einseitige Erlassung einer eV ohne vorherige Anhörung des Gegners möglich, weil der nachfolgend vorgesehene Widerspruch das rechtliche Gehör sicherstellt. IdR und jedenfalls immer dann, wenn sich ein Gericht für die Zweiseitigkeit des Sicherungsverfahrens (durch Einräumung einer schriftlichen Äußerungsmöglichkeit an die Gegenseite oder Anberaumung einer mündlichen Verhandlung) entschieden hat, sind aber die Garantien des Art 6 Abs 1 EMRK auch im Provisorialverfahren voll anwendbar. Wird das rechtliche Gehör im Provisorialverfahren dadurch verletzt, dass die Anhörung des Gegners unterblieben ist, obwohl kein dringender Fall (als Ausnahme für die Zweiseitigkeit) vorlag, bildet dies keinen Nichtigkeitsgrund, sondern nur einen bloßen Verfahrensmangel, weil nur die Verletzung einer absolut (iSv ausnahmslos) angeordneten Gehörgewährung mit Nichtigkeit bedroht ist.
Durch die weitgehende Anwendbarkeit des Art 6 EMRK auf das Provisorialverfahren ist grundsätzlich auch eine mündliche Verhandlung (vgl § 396 EO: „Bewilligung verkündet“; „Verhandlung“) möglich und sinnvoll. Anders als bei der schriftlichen Anhörung wird sich hier freilich öfter argumentieren lassen, dass diese aufgrund der Dringlichkeit nicht möglich ist. IdR wird jedenfalls eine mündliche Verhandlung unterbleiben können, wenn es in hohem Maße um „technische“ Fragen geht, insbesondere bei reinen Rechtsfragen.
Sofern keine mündliche Verhandlung stattfindet, kann die nach Art 6 EMRK gebotene Gehörgewährung durch Einräumung einer schriftlichen Äußerungsmöglichkeit erfolgen. Macht der Gegner der gefährdeten Partei von der ihm eingeräumten Äußerungsmöglichkeit Gebrauch, so ist das Gericht nach früherer Rsp nicht verpflichtet, diese Äußerung der gefährdeten Partei zur Stellungnahme zuzustellen. Diese Auffassung lässt sich in Hinblick auf die Rsp des EGMR nicht aufrechterhalten: Dem Antragsteller ist - schon wegen des Fehlens eines Widerspruchs und wegen des im Rekursverfahren geltenden Neuerungsverbots - Gehör zu gewähren („Recht auf Replik“). Nach dem Grundsatz der Waffengleichheit muss sich jede Partei zu allen Eingaben und Beweismitteln ihres Gegners äußern können. Hingegen besteht ein Recht des Antragsgegners, auf eine allfällige Replik der gefährdeten Partei „duplizieren“ zu können, nur dann, wenn dadurch der Zweck der eV nicht vereitelt wird; andernfalls wird das Recht auf Gehör durch den Widerspruch gewahrt.