26.04.2022 Zivilrecht

OGH: Zum Kalkulationsirrtum

Eine Vertragsbestimmung zur Freigabe von Mehrleistungen regelt nicht den Irrtum einer Vertragspartei und hindert daher die Anwendung des dispositiven Rechts der §§ 871 ff ABGB bei einem offenen Kalkulationsirrtum nicht


Schlagworte: Bauvertragsrecht, Werkvertrag, Pauschalpreisvereinbarung, Kalkulationsirrtum, Motivirrtum, Warnpflicht, Kostenvoranschlag, Überschreitung, Freigabe
Gesetze:

 

§§ 871 ff ABGB, § 1170a ABGB

 

GZ 4 Ob 195/21m, 25.01.2022

 

OGH: Bei einer Vertragsanfechtung wegen Irrtums ist der Anfechtende sowohl für das Vorliegen des Irrtums als auch für dessen Wesentlichkeit (Ursächlichkeit für den Vertragsabschluss) behauptungs- und beweispflichtig. Die Klägerin hat daher konkret zu behaupten, in welcher Weise ihre Vorstellungen von der Wirklichkeit abwichen sowie ob und wenn ja, zu welchen Bedingungen die Parteien ohne diese Fehlvorstellung einen Werkvertrag geschlossen hätten. Dabei wird im vorliegenden Fall insbesondere auch aufzuklären sein, ob und wenn ja welche Rolle die vom Erstgericht festgestellten Ausführungsänderungen und Eigenleistungen der Beklagten spielten.

 

Der Höhe nach fehlen iZm dieser Anspruchsgrundlage Tatsachenbehauptungen zur Bereicherung der Beklagten (bei Rückabwicklung nach Vertragsaufhebung wegen eines wesentlichen Irrtums) bzw zum angemessenen Entgelt gem § 872 ABGB (bei Vertragsanpassung wegen eines unwesentlichen oder wesentlichen Irrtums).

 

Die Beklagte argumentiert weiters, dass der Klägerin jedenfalls kein Entgelt für Mehraufwendungen zustehe, weil sie die Beklagte zumindest gem § 1170a ABGB vor Überschreitungen hätte warnen und laut Werkvertrag vor Mehrleistungen sogar eine Freigabe durch die Beklagte hätte einholen müssen. Auch diese Argumentationslinie findet im Sachverhalt bisher keine Deckung, steht doch (noch) nicht fest, ob und wann der Klägerin eine Überschreitung des Leistungsumfangs überhaupt erkennbar war. Der OGH teilt jedoch die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass die Vertragsbestimmung zur Freigabe von Mehrleistungen - allein ausgehend vom Vertragstext - nicht den Irrtum einer Vertragspartei regelt und daher die Anwendung des dispositiven Rechts der §§ 871 ff ABGB bei einem offenen Kalkulationsirrtum nicht hindert.