OGH: Zu „vertretbaren Gründen“ für die Nichtbeförderung (Fluggastrechte-VO)
Ein Luftfahrtunternehmen, das einem Fluggast die Beförderung verweigert, kann sich nicht auf sein fehlerhaftes Verständnis der Anforderungen an die für die Reise benötigten Dokumente berufen, wenn der Irrtum bei vernünftiger Betrachtung vermieden werden hätte können
Art 2 Fluggastrechte-VO, Art 4 Fluggastrechte-VO, Art 7 f Fluggastrechte-VO, Art 3 Freizügigkeits-RL, Art 5 Freizügigkeits-RL, Art 10 Freizügigkeits-RL
GZ 10 Ob 31/21p, 22.02.2022
OGH: Nach Art 4 Abs 3 iVm Art 7 und 8 Abs 1 lit a Fluggastrechte-VO hat das Luftfahrtunternehmen, das einem Fluggast gegen seinen Willen die Beförderung verweigert, eine Ausgleichszahlung zu leisten und die Kosten des Flugscheins zu erstatten. Nach Art 2 lit j der VO gilt dies aber nur, wenn keine vertretbaren Gründe für die Nichtbeförderung vorliegen, wie sie sich insbesondere aus unzureichenden Reiseunterlagen ergeben können. Im Fall einer Klage eines Fluggastes, dem die Beförderung wegen unzureichender Reiseunterlagen verweigert wurde, hat das zuständige Gericht unter Berücksichtigung der relevanten Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, ob für die Nichtbeförderung vertretbare Gründe gegeben waren. Die Beweislast für das Vorliegen solcher Gründe trifft das Luftfahrtunternehmen.
Die besonderen Rechte der Freizügigkeits-RL gelten nach Art 3 Abs 1 der RL nicht nur für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sondern auch für seine Familienangehörigen, die ihn begleiten oder ihm nachziehen. Nach Art 10 der RL ist einem solchen Familienangehörigen eine „Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers“ auszustellen. Der Besitz einer gültigen Aufenthaltskarte dokumentiert nicht nur das Aufenthaltsrecht des Familienangehörigen, der nicht die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats besitzt, sondern entbindet ihn nach Art 5 Abs 2 der RL auch von der Visumspflicht bei der Einreise in einen anderen Mitgliedstaat. Der Aufenthaltskarte nach Art 10 Freizügigkeits-RL kommt nur deklarative Wirkung zu. Dennoch hat der EuGH bereits ausgesprochen, dass das Vereinigte Königreich grundsätzlich verpflichtet war, eine nach Art 10 der Freizügigkeits-RL ausgestellte Aufenthaltskarte anzuerkennen und dem Inhaber die visumsfreie Einreise in sein Hoheitsgebiet zu gestatten, wobei sich eine Überprüfung (nur) auf die Echtheit des Dokuments und die Richtigkeit der darin enthaltenen Angaben sowie auf konkrete Anhaltspunkte erstrecken darf, die auf einen Rechtsmissbrauch oder Betrug schließen lassen. Letztlich hat hier die Fluglinie nicht nachweisen können, dass die britischen Behörden die Aufenthaltskarte nicht akzeptiert hätten. Ein Luftfahrtunternehmen, das einem Fluggast die Beförderung verweigert, kann sich nicht auf sein fehlerhaftes Verständnis hinsichtlich der Anforderungen an die für die fragliche Reise benötigten Dokumente berufen, wenn dieser Irrtum bei vernünftiger Betrachtung vermieden werden hätte können.