OGH: „Aus anderen Gründen“ iSd § 760 Abs 2 ABGB
Dass der Gesetzgeber mit der Formulierung „aus anderen Gründen“ an dieser Stelle weitere, nicht näher umschriebene und ansonsten nicht im Gesetz genannte Gründe („als gleichwertige Gründe“) für eine Pflichtteilsminderung oder dessen Entfall – und zwar nur im Hinblick auf die Vergrößerung der Quote der anderen Pflichtteilsberechtigten – einführen wollte, erschließt sich dem Rechtsanwender nicht, und zwar weder aus dem Gesetzestext noch den dazu erteilten Erläuterungen; auch in der Lehre werden die beiden Absätze als Gegenüberstellung von den auf dem Willen des Pflichtteilsberechtigten beruhenden Gründen und jenen objektiver Natur unter Aufzählung lediglich von Erbunwürdigkeit, Enterbung und Pflichtteilsminderung (zuweilen auch Vortod), also den im Gesetz normierten Gründen, verstanden
§ 760 ABGB, § 757 ABGB
GZ 1 Ob 166/21z, 12.10.2021
In der Revision steht der Kläger auf dem Standpunkt, Vortod, Erbunwürdigkeit, Enterbung und Pflichtteilsminderung seien nicht die einzigen „anderen Gründe“ iSd § 760 Abs 2 ABGB. Deren Aufzählung in den Gesetzesmaterialien sei bloß beispielhaft, es genüge für das Vorliegen solcher „anderer Gründe“, dass objektive Umstände für den Entfall eines Pflichtteilsberechtigten vorlägen. Dazu vermisst er „gesicherte Rsp“ und im konkreten Fall die Beurteilung, ob sich aus den „gegenständlichen Feststellungen“ „andere Gründe“ iSd § 760 Abs 2 ABGB „ergeben können“.
OGH: Für seine Ansicht bezieht er sich auf die Gesetzesmaterialien. Diese führen zu Abs 2 leg cit aus, der Zuwachs an die übrigen Pflichtteilsberechtigten nach den Grundsätzen der §§ 733 und 734 ABGB des Entwurfs sei „dagegen“ [Anmerkung: anders als im Fall des Abs 1 leg cit] „sachlich gerechtfertigt“, „wenn der Entfall eines Pflichtteilsberechtigten auf objektive Umstände wie Vortod, Erbunfähigkeit oder Enterbung bzw Pflichtteilsminderung zurückzuführen ist (Abs 2)“ Gestützt auf die Verwendung des Wortes „wie“ fasst der Kläger diese Aufzählung als bloß beispielhaft auf. Dabei betrachtet er aber diese Ausführungen zu Abs 2 singulär, ohne den Zusammenhang der beiden Absätze des § 760 ABGB zu beachten und räumt dem Wort „wie“ eine dem Kontext von Gesetzestext und Gesetzesmaterialien schwerlich zu entnehmende Bedeutung ein. Die in § 760 Abs 2 ABGB gebrauchte Wendung „aus anderen Gründen“ bezieht sich zweifelsohne auf Abs 1 leg cit („Wenn einer der in § 757 angeführten Personen infolge Pflichtteilsverzichtes oder Ausschlagung der Erbschaft kein Pflichtteil zusteht, erhöht dies im Zweifel die Pflichtteile der anderen Pflichtteilsberechtigten nicht“). Dort wird geregelt, dass sich (im Zweifel) die Testierfreiheit des Erblassers durch einen vom Willen des Pflichtteilsberechtigten abhängigen Verzicht oder die Ausschlagung der Erbschaft vergrößert. Verzicht oder Ausschlagung führen nämlich nicht dazu, dass sich die Pflichtteile der anderen Pflichtteilsberechtigten erhöhen. Im Gegensatz dazu soll es nach § 760 Abs 2 ABGB (s ErläutRV: „dagegen“) bei den Gründen, die zur [Anm: vom Willen des Pflichtteilsberechtigten unabhängigen] Reduktion des Pflichtteils oder seines Ausschlusses führen, nicht zu einer Erweiterung der Testierfreiheit kommen (ErläutRV), weshalb sich in solchen Fällen der Pflichtteil der anderen Pflichtteilsberechtigten anteilig erhöht („Wenn aber einer der in § 757 angeführten Personen aus anderen Gründen kein oder nur ein geminderter Pflichtteil zusteht und an ihrer Stelle auch keine Nachkommen den Pflichtteil erhalten, erhöhen sich die Pflichtteile der anderen Pflichtteilsberechtigten anteilig; die §§ 733 und 734 sind anzuwenden“). Dass der Gesetzgeber mit der Formulierung „aus anderen Gründen“ an dieser Stelle weitere, nicht näher umschriebene und ansonsten nicht im Gesetz genannte Gründe („als gleichwertige Gründe“) für eine Pflichtteilsminderung oder dessen Entfall – und zwar nur im Hinblick auf die Vergrößerung der Quote der anderen Pflichtteilsberechtigten – einführen wollte, erschließt sich dem Rechtsanwender nicht, und zwar weder aus dem Gesetzestext noch den dazu erteilten Erläuterungen. Auch in der Lehre werden die beiden Absätze als Gegenüberstellung von den auf dem Willen des Pflichtteilsberechtigten beruhenden Gründen und jenen objektiver Natur unter Aufzählung lediglich von Erbunwürdigkeit, Enterbung und Pflichtteilsminderung (zuweilen auch Vortod), also den im Gesetz normierten Gründen, verstanden.