OGH: § 56 EO – Säumnis; Fristsetzung; Verletzung des rechtlichen Gehörs
In Ausnahmefällen, etwa dann, wenn die Effektivität der Maßnahme von einer raschen Entscheidung abhängt, wird weiterhin die einseitige Erlassung einer einstweiligen Verfügung ohne vorherige Anhörung des Gegners zulässig sein, weil der nachfolgend mögliche Widerspruch das rechtliche Gehör sicherstellt; das rechtliche Gehör iSd Art 6 Abs 1 EMRK wird nicht nur dann verletzt, wenn einer Partei die Möglichkeit, sich im Verfahren zu äußern, überhaupt genommen wird, sondern auch dann, wenn einer gerichtlichen Entscheidung Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten; geht das Erstgericht nicht vom Vorliegen des oben genannten Ausnahmefalls aus und setzt dem Antragsgegner eine Frist zur schriftlichen Stellungnahme an deren Versäumung es die Zustimmungsfiktion nach § 56 EO knüpft, dann ist es zur Wahrung des rechtlichen Gehörs jedenfalls geboten, den Antragsgegner vom Inhalt der Eingabe, der Aufforderung zur Stellungnahme und den Säumnisfolgen so rechtzeitig Kenntnis zu verschaffen, dass für ihn noch vor Ablauf der gesetzten Frist auch die Möglichkeit zur schriftlichen Äußerung besteht
§ 56 EO, Art 6 EMRK
GZ 7 Ob 188/21d, 24.11.2021
OGH: Wenn der Verhandlung oder Einvernehmung ein Antrag einer Partei oder ein von Amts wegen in Aussicht genommenes Vorgehen des Gerichts zugrunde liegt, so sind nach § 56 Abs 2 EO, falls das Gesetz nichts anderes bestimmt, diejenigen Personen, die trotz gehöriger Ladung nicht erscheinen, als diesem Antrag oder diesem Vorgehen zustimmend zu behandeln; der wesentliche Inhalt des Antrags oder des von Amts wegen in Aussicht genommenen Vorgehens und die mit dem Nichterscheinen verbundenen Rechtsfolgen sind in der Ladung anzugeben. Diese Bestimmungen gelten nach § 56 Abs 3 EO auch für die Versäumung von Fristen, die für schriftliche Erklärungen oder Äußerungen der Parteien oder sonstigen Beteiligten gegeben werden.
Damit die Nichtbeachtung einer Ladung zur Verhandlung oder zur Einvernehmung bzw die Versäumung der Frist zur schriftlichen Erklärung oder Äußerung die in § 56 Abs 2 und 3 EO normierte Fiktion der Zustimmung zur Folge hat, müssen die in § 56 Abs 2 EO genannten Voraussetzungen kumulativ gegeben sein. Es muss einerseits der Partei oder dem Beteiligten der wesentliche Inhalt des Antrags oder des von Amts wegen in Aussicht genommenen Vorgehens mit der Ladung bzw mit der Aufforderung zur Stellungnahme bekanntgegeben worden sein, und andererseits muss die Säumnisfolge der fingierten Zustimmung für den Fall des Nichterscheinens bzw der Versäumung der gesetzten Frist in der Ladung bzw in der Aufforderung zur Stellungnahme angedroht werden. Die Ladung bzw Aufforderung zur Stellungnahme muss überdies der Partei oder dem Beteiligten ordnungsgemäß zugestellt worden sein. Die mit dem fruchtlosen Ablauf der Äußerungsfrist eingetretenen Säumnisfolgen werden durch eine verspätete Stellungnahme nicht aufgehoben. Andernfalls hätte die Erteilung einer Frist keine Bedeutung und würde es von der früheren oder späteren Erledigung des Antrags abhängen, ob auf Einwendungen des Gegners einzugehen ist.
Aufgrund der Entscheidung des EGMR vom 15. 10. 2009, Micallef gegen Malta, 17056/06, sind nunmehr im Regelfall auch im Provisorialverfahren die Garantien des Art 6 EMRK voll anwendbar. In Ausnahmefällen, etwa dann, wenn die Effektivität der Maßnahme von einer raschen Entscheidung abhängt, wird aber weiterhin die einseitige Erlassung einer einstweiligen Verfügung ohne vorherige Anhörung des Gegners zulässig sein, weil der nachfolgend mögliche Widerspruch das rechtliche Gehör sicherstellt.
Das rechtliche Gehör iSd Art 6 Abs 1 EMRK wird nicht nur dann verletzt, wenn einer Partei die Möglichkeit, sich im Verfahren zu äußern, überhaupt genommen wird, sondern auch dann, wenn einer gerichtlichen Entscheidung Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten. Geht – wie hier – das Erstgericht nicht vom Vorliegen des oben genannten Ausnahmefalls aus und setzt dem Antragsgegner eine Frist zur schriftlichen Stellungnahme an deren Versäumung es die Zustimmungsfiktion nach § 56 EO knüpft, dann ist es zur Wahrung des rechtlichen Gehörs jedenfalls geboten, den Antragsgegner vom Inhalt der Eingabe, der Aufforderung zur Stellungnahme und den Säumnisfolgen so rechtzeitig Kenntnis zu verschaffen, dass für ihn noch vor Ablauf der gesetzten Frist auch die Möglichkeit zur schriftlichen Äußerung besteht.
Hier setzte das Erstgericht dem unvertretenen Antragsgegner eine Frist für das Einlangen seiner schriftlichen Äußerung bis 17. 6. 2020, 11:00 Uhr. Die durch Hinterlegung zugestellte Postsendung konnte frühestens ab 17. 6. 2020, 9:00 Uhr, von ihm abgeholt werden, sodass ihm bestenfalls zwei Stunden für eine mögliche Reaktion blieben. Dieser Zeitraum ist jedenfalls als zu kurz für die Wahrung des rechtlichen Gehörs anzusehen. Die auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs zurückzuführende objektive Säumnis mit der schriftlichen Äußerung kann keine Zustimmung fingieren.