21.12.2021 Zivilrecht

OGH: Sturz eines Rollstuhlfahrers – Mitverschulden bei unterlassener Verwendung eines Personenrückhaltesystems?

Es begründet kein Mitverschulden eines aus dem Rollstuhl gestürzten Rollstuhlfahrers, wenn er kein „Personenrückhaltesystem“ (Becken- oder Schultergurt) verwendete; es gibt keine Hinweise darauf, dass sich unter Rollstuhlfahrern ein entsprechendes Bewusstsein herausgebildet hätte


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Mitverschulden, Sturz eines Rollstuhlfahrers, unterlassene Verwendung eines Personenrückhaltesystems
Gesetze:

 

§ 1304 ABGB, § 106 KFG, § 2 StVO

 

GZ 2 Ob 98/21g, 21.10.2021

 

OGH: Eine als Mitverschulden bezeichnete Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten, die zur Selbstschädigung führt, liegt dann vor, wenn jene Sorgfalt außer Acht gelassen wird, die nach dem allgemeinen Bewusstsein der beteiligten Kreise von jedem Einsichtigen und Vernünftigen eingehalten worden wäre, um eine Schädigung zu verhindern. Dies setzt auch voraus, dass der Geschädigte die Gefahr erkannte bzw diese zumindest erkennbar war. Erkennbaren Gefahrenquellen muss nämlich jedenfalls ausgewichen werden.

 

§ 106 Abs 2 KFG verpflichtet zur Benutzung von Sicherheitsgurten in Kraftfahrzeugen. Ausnahmen von der Gurtenpflicht bestehen insofern gem § 106 Abs 3 Z 2 KFG bei Unmöglichkeit des bestimmungsgemäßen Gebrauchs des Sicherheitsgurts wegen der Körpergröße oder schwerster körperlicher Beeinträchtigung des Benützers.

 

§ 2 Abs 1 Z 19 StVO nimmt aber Rollstühle explizit vom Fahrzeugbegriff aus. Aus der Bestimmung ergibt sich – auch wenn eine § 24 Abs 1 dStVO entsprechende Regelung in Österreich fehlt –, dass Benutzer von Greifreifenrollstühlen auch in Österreich wie Fußgänger zu behandeln sind. Eine gesetzliche Gurtenpflicht besteht daher für sie nicht.

 

Mit der Frage des Mitverschuldens bei unterlassener Verwendung von Schutzeinrichtungen ohne entsprechende gesetzliche Verpflichtung hatte sich der Senat iZm Helmen bei Radfahrern und Motorradschutzkleidung zu beschäftigen:

 

In der E 2 Ob 99/14v sprach er erstmals aus, dass das Nichttragen eines Fahrradhelms bei „sportlich ambitionierten“ Radfahrern im Falle einer kausalen Kopfverletzung als Obliegenheitsverletzung zu werten sei. Auch wenn die österreichische Rechtsordnung keine allgemeine Helmpflicht vorsehe, sei eine Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten anzunehmen, wenn sich in den beteiligten Kreisen bereits ein allgemeines Bewusstsein zum Tragen eines Helms gebildet habe, was bei Fahrten unter rennmäßigen Bedingungen anzunehmen sei.

 

In ähnlicher Weise wertete der Senat trotz fehlender gesetzlicher Anordnung das Nichttragen von Schutzkleidung durch einen Motorradfahrer auf einer kurzen Überlandfahrt als Mitverschulden, weil sich unter Motorradfahrern eine entsprechende soziale Norm herausgebildet habe. Diese Grundsätze wurden in der E 2 Ob 44/17k auch auf den Motorradverkehr im Ortsgebiet übertragen.

 

Dass sich unter Rollstuhlfahrern ein allgemeines Bewusstsein herausgebildet hätte, Rückhaltegurte bzw Beckengurte auch bei der händischen – allenfalls elektrisch unterstützten – Benutzung des Rollstuhls zu verwenden, steht nicht fest und ist auch nicht offenkundig iSd § 269 ZPO, sodass dem Kläger bereits aus diesem Grund kein Mitverschulden anzulasten ist.

 

Hinzu kommt, dass der Kläger bei Verwendung eines Rückhaltegurts – abgesehen von der weiteren Einschränkung seiner Beweglichkeit – seine Sitzposition entgegen seinen medizinischen Erfordernissen nicht mehr regelmäßig verlagern und damit erneut den bereits einmal eingetretenen Dekubitus im Gesäßbereich riskieren würde. Wenn damit im konkreten Einzelfall sogar Umstände vorliegen, die den oben angeführten Ausnahmen von der gesetzlichen Gurtenpflicht in Kraftfahrzeugen zumindest nahe kommen, kann umso weniger ein Mitverschulden des Klägers angenommen werden.

 

In Deutschland hatte das Bundesverfassungsgericht aufgrund einer Verfassungsbeschwerde eines bei einem Verkehrsunfall zu Schaden gekommenen Rollstuhlfahrers zu prüfen, ob die Annahme eines (zum Sturz aus dem Rollstuhl führenden) Mitverschuldens wegen Nichtanlegung des Beckengurts gegen das Verbot der Benachteiligung behinderter Personen (Art 3 Abs 3 Satz 2 GG) verstieß. Es entschied, dass für Rollstuhlfahrer im Straßenverkehr keine Obliegenheit zum Anlegen eines Beckengurts bestehe. Auch wenn ein Beckengurt bereits am Rollstuhl befestigt sei, diene er lediglich der Sicherung während des Transports mit einem Fahrzeug. Die Verwendung des Beckengurts sei bei der Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr nach dem allgemeinen Bewusstsein zum eigenen Schutz nicht geboten, sodass ein Mitverschulden nicht vorliege. Das Bundesverfassungsgericht wies auch auf die Bedeutung des Verbots der Benachteiligung behinderter Menschen für die Beurteilung eines Mitverschuldens hin.

 

Diese Erwägungen sind auch auf österreichische Verhältnisse übertragbar.

 

Da sich schließlich der erste Vorfall unter völlig anderen Bedingungen (Dunkelheit, Kopfsteinpflaster) ereignete als der zweite (Hafengelände mit sandigem Boden), ist entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts auch daraus kein Mitverschulden des Klägers abzuleiten.