27.07.2021 Zivilrecht

OGH: Zur Rechtsanwaltshaftung

Eine unzutreffende Rechtsansicht macht den Rechtsanwalt dann nicht schadenersatzpflichtig, wenn sich eine Spruchpraxis zu einer bestimmten Rechtsfrage noch nicht gebildet hat; in diesem Fall kann dem Rechtsanwalt kein Vorwurf gemacht werden, wenn ein von ihm eingenommener, an sich vertretbarer Rechtsstandpunkt in der Folge von der Rsp nicht geteilt werden sollte; handeln unter Zugrundelegung einer vertretbaren Rechtsansicht stellt in diesem Fall daher auch bei objektiver Unrichtigkeit keine Verletzung der gebotenen Sorgfalt dar


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Anwaltshaftung, vertretbare Gesetzesauslegung
Gesetze:

 

§§ 1295 ff ABGB, § 9 RAO

 

GZ 6 Ob 95/21w, 23.06.2021

 

OGH: Der Vertrag zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten ist grundsätzlich ein Bevollmächtigungsvertrag, auf den in erster Linie die Vorschriften der RAO bzw die Bestimmungen des ABGB über die Bevollmächtigung anzuwenden sind. Gem § 9 RAO ist der Rechtsanwalt verpflichtet, die Rechte seiner Partei mit Gewissenhaftigkeit zu vertreten. Diese Bestimmung ergänzt § 1009 ABGB, wonach der Gewalthaber verpflichtet ist, das ihm durch den Bevollmächtigungsvertrag aufgetragene Geschäft umsichtig und redlich zu besorgen.

 

Haftungsmaßstab des Rechtsanwalts ist nach § 1299 ABGB derjenige eines Sachverständigen. Der Rechtsanwalt haftet grundsätzlich für den notwendigen Fleiß und die erforderliche Gesetzeskenntnis. Er haftet jedoch nicht für eine unrichtige, aber vertretbare Gesetzesauslegung, auch wenn diese in der Folge vom Gericht nicht geteilt wird; vertretbar ist eine Rechtsmeinung dann, wenn sie in der Rsp, wobei allerdings höchstgerichtliche Rsp ausschlaggebend ist, und Lehre bereits geäußert wurde. Eine unzutreffende Rechtsansicht macht den Rechtsanwalt dann nicht schadenersatzpflichtig, wenn sich eine Spruchpraxis zu einer bestimmten Rechtsfrage noch nicht gebildet hat. In diesem Fall kann dem Rechtsanwalt kein Vorwurf gemacht werden, wenn ein von ihm eingenommener, an sich vertretbarer Rechtsstandpunkt in der Folge von der Rsp nicht geteilt werden sollte. Handeln unter Zugrundelegung einer vertretbaren Rechtsansicht stellt in diesem Fall daher auch bei objektiver Unrichtigkeit keine Verletzung der gebotenen Sorgfalt dar.

 

Die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht des Rechtsberaters dürfen nicht überspannt werden; es können von ihm nur der Fleiß und die Kenntnisse verlangt werden, die seine Fachgenossen gewöhnlich haben.

 

Ein Verschulden wegen Unterlassung entsprechender Behauptungen im Vorprozess oder Unterlassung der Namhaftmachung von Beweismitteln kann immer nur dann angenommen werden, wenn die Bedeutung der Tatsachen oder Beweismittel ohne weiteres erkennbar gewesen wäre. Die Grenze bildet auch hier die Anwendung der zumutbaren Sorgfalt.