OGH: Zusammenstoß eines dunkel gekleideten Fußgängers mit Kfz während Überquerens einer Straße bei Dunkelheit
Zwar ist richtig, dass ein Fahrzeuglenker auch mit schwer wahrnehmbaren, also auch mit dunklen, unbeleuchteten Hindernissen auf der Fahrbahn rechnen muss; er braucht aber die Wahl seiner Geschwindigkeit nicht auf plötzlich, unvermutet und für ihn nicht vorhersehbar auftauchende Hindernisse einzurichten, weil mit bloß abstrakt möglichen Gefahrenquellen nicht gerechnet werden muss; auf völlig unberechenbare Hindernisse und insbesondere auf Hindernisse, die aufgrund von nicht rechtzeitig erkennbaren Verkehrswidrigkeiten anderer Verkehrsteilnehmer in die Fahrbahn gelangen, braucht er seine Geschwindigkeit daher nicht einzurichten; nach stRsp ist der Fahrzeuglenker aber dazu verpflichtet, während der Fahrt nicht nur die vor ihm liegende Fahrbahn in ihrer ganzen Breite, sondern auch die beiden Fahrbahnränder und die daran anschließenden Verkehrsflächen im Auge zu behalten
§§ 1295 ff ABGB, § 20 StVO, § 76 StVO, § 3 StVO
GZ 2 Ob 32/21a, 26.05.2021
OGH: Der aus der Schutznorm des § 20 Abs 1 Satz 1 StVO abgeleitete Grundsatz des Fahrens auf Sicht bedeutet, dass ein Fahrzeuglenker seine Fahrgeschwindigkeit so zu wählen hat, dass er sein Fahrzeug beim Auftauchen eines Hindernisses rechtzeitig zum Stehen bringen und zumindest das Hindernis umfahren kann. Jeder Kraftfahrer muss daher seine Fahrweise so gestalten, dass der Weg des abzubremsenden Fahrzeugs in der Zeit vom Erkennen eines Hindernisses auf der Fahrbahn bis zum vollen Stillstand des Fahrzeugs nie länger als die durch ihn eingesehene Strecke ist. Fährt ein Kraftfahrer bei Dunkelheit mit Abblendlicht, dann hat er, soweit nicht besondere Umstände die Sicht über die vom Abblendlicht erleuchtete Strecke hinaus ermöglichen, grundsätzlich mit einer Geschwindigkeit zu fahren, die ihm das Anhalten seines Fahrzeugs innerhalb der Reichweite des Abblendlichts ermöglicht. Entspricht daher die eingehaltene Geschwindigkeit der durch das Abblendlicht ausgeleuchteten Sichtweite bzw der Anhalteweg der eingehaltenen Geschwindigkeit der ausgeleuchteten Strecke, dann liegt ein Verstoß gegen § 20 StVO nicht vor.
Zwar ist richtig, dass ein Fahrzeuglenker auch mit schwer wahrnehmbaren, also auch mit dunklen, unbeleuchteten Hindernissen auf der Fahrbahn rechnen muss. Er braucht aber die Wahl seiner Geschwindigkeit nicht auf plötzlich, unvermutet und für ihn nicht vorhersehbar auftauchende Hindernisse einzurichten, weil mit bloß abstrakt möglichen Gefahrenquellen nicht gerechnet werden muss. Auf völlig unberechenbare Hindernisse und insbesondere auf Hindernisse, die aufgrund von nicht rechtzeitig erkennbaren Verkehrswidrigkeiten anderer Verkehrsteilnehmer in die Fahrbahn gelangen, braucht er seine Geschwindigkeit daher nicht einzurichten.
Nach diesen Grundsätzen wäre dem Erstbeklagten ein Verstoß gegen das Gebot des Fahrens auf Sicht dann nicht vorwerfbar, wenn er mit dem verkehrswidrigen Verhalten des Fußgängers nicht zu rechnen brauchte. Denn er hat eine Geschwindigkeit eingehalten, die es ihm nach den Feststellungen erlaubte, innerhalb der vom Abblendlicht ausgeleuchteten Strecke anzuhalten.
Allerdings haben die Kläger dem Erstbeklagten auch einen Beobachtungsfehler insofern vorgeworfen, als er den Kläger „weit vor dem Kollisionspunkt“ hätte erkennen können. Wenn dies zutraf, hätte dies für den Erstbeklagten – je nach den konkreten Umständen – möglicherweise schon vor der festgestellten Gefahrenerkennung die Verpflichtung zu einer Verminderung seiner Fahrgeschwindigkeit ausgelöst. Diese Frage kann aber anhand der bisherigen Feststellungen noch nicht beurteilt werden:
Zwar steht fest, dass der dunkel gekleidete Fußgänger im Schein des Abblendlichts erst aus 20 m Entfernung für den Erstbeklagten erkennbar war. Es steht aber auch fest, dass der Fußgänger die Fahrbahn von einer Stelle des daneben verlaufenden Gehwegs aus betreten hat, die durch die dort angebrachte Straßenlaterne beleuchtet war. Es ist nicht auszuschließen, dass der Fußgänger in Annäherung an die Fahrbahn und beim Betreten derselben für den Erstbeklagten bereits aus größerer Entfernung erkennbar war.
Nach stRsp war der Erstbeklagte jedenfalls dazu verpflichtet, während der Fahrt nicht nur die vor ihm liegende Fahrbahn in ihrer ganzen Breite, sondern auch die beiden Fahrbahnränder und die daran anschließenden Verkehrsflächen im Auge zu behalten. Er hatte sein Augenmerk daher auch auf den links von ihm befindlichen Gehweg zu richten, jedenfalls aber auf den linken Fahrbahnrand.
Wäre das Betreten der Fahrbahn für den Erstbeklagten erkennbar gewesen, könnte er sich nicht mehr ohne weiteres darauf berufen, dass er mit einem verkehrswidrigen Verhalten des Fußgängers nicht zu rechnen brauchte. Das gilt auch unter Berücksichtigung der Rsp, wonach ein Fahrzeuglenker auf einer – hier bereits als solche zu qualifizierenden – „breiten“ Straße grundsätzlich darauf vertrauen darf, dass sich der Fußgänger bei Erreichen der Fahrbahnmitte von der Durchführbarkeit der weiteren Überquerung überzeugen wird, und nicht von vornherein damit rechnen muss, dass der Fußgänger eine unaufmerksame Gehweise über die Fahrbahnmitte hinaus ohne jede Berücksichtigung des Verkehrs fortsetzen wird.
Geriet nämlich der Fußgänger während des Überquerens der – aus Sicht des Erstbeklagten – linken Fahrbahnhälfte vorübergehend aus dessen Sichtbereich, weil er ihn in diesem Teil der Fahrbahn nicht sehen konnte (worauf die Feststellungen hindeuten), bestand für das Vertrauen auf ein verkehrsgerechtes Verhalten des Fußgängers keine ausreichende Grundlage mehr.
In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass nach den Feststellungen der Kontakt vermieden hätte werden können, wenn der Erstbeklagte die Kollisionsstelle nur um 0,36 sec später erreicht hätte, was bereits bei einer rund 0,5 sec davor liegenden Bremsung aus einer – bei
der Verschuldensprüfung zu unterstellenden – Fahrgeschwindigkeit von 50 km/h auch der Fall gewesen wäre.
Zur Klärung der Verschuldensfrage bedarf es daher ergänzender Feststellungen zu den objektiven Sichtverhältnissen, insbesondere dazu, ob dem Erstbeklagten bei gehöriger Aufmerksamkeit die Sicht auf den Fußgänger möglich war, als dieser sich anschickte, die Fahrbahn zu überqueren, und bejahendenfalls, wie lange er sich dabei im Sichtbereich des Erstbeklagten befand.
Erst auf der Grundlage eines derart vervollständigten Sachverhalts kann abschließend beurteilt werden, ob dem Erstbeklagten ein Verschulden an dem Unfall anzulasten ist.