OGH: HKÜ – Kindeswohlgefährdung; Zumutbarkeit der Rückkehr des entführenden Elternteils
Berücksichtigungswürdige drohende Nachteile müssen über die zwangsläufigen Folgen eines erneuten Aufenthaltswechsels hinausgehen, weil sonst praktisch jede Rückführung scheitern und damit das Ziel des HKÜ nicht greifen würde; zwar ist eine schwerwiegende psychische Gefährdung des Kindes auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erst durch einen längeren Aufenthalt im Verbringungsland bedingt ist; bloß kurzfristige Traurigkeitsgefühle in einer Umstellungsphase nach der Rückkehr können aber nicht als „seelischer Schaden“ iSd Art 13 lit b HKÜ angesehen werden; eine gelungene Integrierung eines Kindes in seine neue Umgebung nach Art 12 Abs 2 HKÜ schließt eine Rückführung nur dann aus, wenn der Rückführungsantrag mehr als ein Jahr nach dem Verbringen des Kindes gestellt wurde; ein gegenüber einem Verbleib in Österreich bestehendes derart erhöhtes gesundheitliches Risiko in den USA aufgrund der COVID-19-Pandemie, das eine Rückkehr in die USA unzumutbar erscheinen ließe, besteht jedenfalls mittlerweile nicht mehr; dass es der Mutter unmöglich gewesen wäre, in die USA einzureisen, wurde ohnehin nicht festgestellt; zwar ist die Mutter – anders als bisher in den USA – in Österreich nunmehr berufstätig; ihr ist es aber durchaus zumutbar, diese eigenen Nachteile einer Rückkehr in Kauf zu nehmen, hat sie doch durch ihre eigenmächtige Entführung des Kindes nach Österreich die nunmehrige Situation erst geschaffen
Art 13 HKÜ, Art 12 HKÜ
GZ 6 Ob 83/21f, 12.05.2021
OGH: Nach Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist die zuständige Behörde – ungeachtet der grundsätzlichen Verpflichtung zur sofortigen Rückgabe des Kindes (Art 12 Abs 1 HKÜ) – dann nicht verpflichtet, die Rückgabe anzuordnen, wenn (ua) die Person, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt. Der Ausnahmetatbestand des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist eng auszulegen und deshalb auf wirklich schwere Gefahren zu beschränken. Die Person, die sich der Rückgabe widersetzt, trifft die volle Behauptungslast und Beweislast für das Vorliegen von Rückführungshindernissen. Selbst die Frage, ob das Kindeswohl der Rückführung entgegensteht, ist nicht von Amts wegen, sondern nur über Vorbringen der Person, die sich der Rückführung widersetzt, zu prüfen.
Das konkrete Kindeswohl ist – wie sich aus Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ergibt – auch bei der zwangsweisen Durchsetzung der Rückführung zu berücksichtigen. Allerdings kann die Behauptung, das Kindeswohl sei gefährdet, dabei nur auf Sachverhalte gestützt werden, die sich nach der Erlassung der Entscheidung über die Rückführung ereigneten (vgl nunmehr auch § 111d AußStrG). In Ausnahmefällen kann ein Vollzug dann unterbleiben, wenn nach der Anordnung der Rückführung und vor der Vornahme von Vollstreckungsmaßnahmen neue Umstände eingetreten sind, die bei der Anordnung von Vollstreckungsmaßnahmen zu einer schwerwiegenden Kindeswohlgefährdung führen würden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das HKÜ nicht die Rückgabe des entführten Kindes an den anderen Elternteil verlangt (die Entscheidung darüber kommt grundsätzlich den Behörden im Herkunftsstaat zu), sondern die Rückführung des Kindes in das Staatsgebiet des Herkunftsstaats.
Die festgestellte „Verwurzelung“ der Minderjährigen in Österreich reicht für ein Absehen von der Durchsetzung des Rückführungsbeschlusses nicht aus:
Berücksichtigungswürdige drohende Nachteile müssen über die zwangsläufigen Folgen eines erneuten Aufenthaltswechsels hinausgehen, weil sonst praktisch jede Rückführung scheitern und damit das Ziel des HKÜ nicht greifen würde. Zwar ist eine schwerwiegende psychische Gefährdung des Kindes auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erst durch einen längeren Aufenthalt im Verbringungsland bedingt ist; bloß kurzfristige Traurigkeitsgefühle in einer Umstellungsphase nach der Rückkehr können aber nicht als „seelischer Schaden“ iSd Art 13 lit b HKÜ angesehen werden. Eine gelungene Integrierung eines Kindes in seine neue Umgebung nach Art 12 Abs 2 HKÜ schließt eine Rückführung nur dann aus, wenn der Rückführungsantrag mehr als ein Jahr nach dem Verbringen des Kindes gestellt wurde.
Nach den Feststellungen ist die Minderjährige in Österreich mittlerweile „stark verwurzelt“. Sie besucht den Kindergarten und ist bereits sozial stabil in ihrer Umgebung eingelebt. Im Fall einer Rückführung käme es schon wegen des „Herausreißens“ aus ihren sozialen Bindungen und ihrem bisherigen Sprachraum zu einer „erheblichen psychischen Belastung“. Dabei handelt es sich jedoch nicht um „wirklich schwere Gefahren“ iSd dargestellten Rsp des OGH, sondern um Umstände, die nicht über die zwangsläufigen Folgen eines erneuten Aufenthaltswechsels hinausgehen. Diese Umstände tragen somit die Entscheidung der Vorinstanzen nicht.
Zu einer Trennung der Minderjährigen von der Mutter muss es nicht kommen:
Zwar begründet die Trennung eines Kleinkindes von dem sie hauptsächlich betreuenden Elternteil idR eine Gefährdung des Kindeswohls. Grundsätzlich ist es dem entführenden Elternteil aber zumutbar, gemeinsam mit dem Kind in den Herkunftsstaat zurückzukehren, weil es dann nicht zur Trennung kommen muss. Dem entführenden Elternteil ist auch zuzumuten, eigene Nachteile der Rückkehr in Kauf zu nehmen, weil es auf sein Wohl dabei nicht ankommt. Dass eine Weigerung des hauptsächlich betreuenden Elternteils, das Kind bei seiner Rückführung zu begleiten, eine schwerwiegende Gefahr für das Kind begründen könnte, vermag eine Rückführung daher nur dann zu verhindern, wenn es dem hauptsächlich betreuenden Elternteil nach den im Einzelfall gegebenen Umständen unmöglich oder nicht zumutbar ist, mit dem Kind gemeinsam in den Herkunftsstaat zurückzukehren.
Auch im vorliegenden Fall droht durch einen Verlust des Kontakts zur Mutter als Hauptbezugsperson eine Traumatisierung der erst drei Jahre alten Minderjährigen. Eine Rückführung kommt deshalb nur dann in Betracht, wenn es auch der Mutter möglich und zumutbar ist, gemeinsam mit ihrer Tochter in die USA zurückzukehren.
Dies ist zu bejahen:
Ein gegenüber einem Verbleib in Österreich bestehendes derart erhöhtes gesundheitliches Risiko in den USA aufgrund der COVID-19-Pandemie, das eine Rückkehr in die USA unzumutbar erscheinen ließe, besteht jedenfalls mittlerweile nicht mehr. Dass es der Mutter unmöglich gewesen wäre, in die USA einzureisen, wurde ohnehin nicht festgestellt. Zwar ist die Mutter – anders als bisher in den USA – in Österreich nunmehr berufstätig. Ihr ist es aber durchaus zumutbar, diese eigenen Nachteile einer Rückkehr in Kauf zu nehmen, hat sie doch durch ihre eigenmächtige Entführung des Kindes nach Österreich die nunmehrige Situation erst geschaffen.
Weitere im gegebenen Zusammenhang der zwangsweisen Durchsetzung der Rückführung (noch) relevante Umstände sind den Feststellungen nicht zu entnehmen. Es wird daher an der Antragsgegnerin liegen, im Rahmen ihrer Obsorgepflicht mit der Minderjährigen in die USA zurückzukehren, um deren Wohl zu sichern.
Den vom Rekursgericht dagegen ins Treffen geführten Entscheidungen lagen mit dem vorliegenden Fall nicht hinreichend vergleichbare Sachverhalte zugrunde. In der E 6 Ob 242/09w war aufgrund einer entsprechenden Obsorgeentscheidung im Herkunftsstaat die Rückgabe in die alleinige Obhut des Vaters zu beurteilen. In der E 6 Ob 134/13v bestand im Herkunftsstaat ein Haftbefehl gegen die Mutter. In der E 6 Ob 218/15z war nicht die Zumutbarkeit einer Begleitung der Kinder durch den entführenden Elternteil zu beurteilen, sondern verweigerten die dreizehn und elf Jahre alten Kinder selbst vehement die Fortsetzung der Durchführung der zwangsweisen Rückführung.
Der Revisionsrekurs hat daher Erfolg. Zutreffend hat bereits das Rekursgericht darauf hingewiesen, dass es aufgrund der amtswegig zu vollziehenden bereits vollstreckbaren Rückführungsanordnung eines Vollstreckungsantrags des Antragstellers nicht bedurfte (§ 111c Abs 5 AußStrG). Dennoch ist es im vorliegenden Fall zweckmäßig, dem Erstgericht den Vollzug der zwangsweise angeordneten Rückführung der Minderjährigen nunmehr ausdrücklich aufzutragen.