22.02.2021 Fremdenrecht

VwGH: Antrag auf internationalen Schutz – zu den Ermittlungspflichten bei der Feststellung des Herkunftsstaates

„Herkunftsstaat“ ist jener Staat, zu dem ein formelles Band der Staatsbürgerschaft besteht; nur wenn ein solcher Staat nicht existiert, wird subsidiär auf sonstige feste Bindungen zu einem Staat in Form eines dauernden (gewöhnlichen) Aufenthalts zurückgegriffen; die Asylbehörde hat den wahren Herkunftsstaat des Asylwerbers von Amts wegen festzustellen, wenn ihr dies auf Grund konkreter Anhaltspunkte im Verfahren auch ohne Mitwirkung des Asylwerbers möglich ist


Schlagworte: Antrag auf internationalen Schutz, Herkunftsstaat, Ermittlungspflichten, Mitwirkung des Fremden
Gesetze:

 

§ 2 AsylG 2005, § 15 AsylG 2005, § 8 AsylG 2005, § 18 AsylG 2005

 

GZ Ra 2020/19/0030, 18.12.2020

 

VwGH: Gem § 8 Abs 1 AsylG 2005 ist einem Fremden unter den in den Z 1 oder 2 genannten Voraussetzungen der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung näher genannter Rechte bedeuten oder für ihn eine näher beschriebene Bedrohung mit sich bringen würde. Gem § 2 Abs 1 Z 17 AsylG 2005 ist der Herkunftsstaat jener Staat, dessen Staatsangehörigkeit der Fremde besitzt, oder - im Falle der Staatenlosigkeit - der Staat seines früheren gewöhnlichen Aufenthaltes. Dementsprechend erkennt der VwGH in stRsp, dass „Herkunftsstaat“ jener Staat ist, zu dem ein formelles Band der Staatsbürgerschaft besteht; nur wenn ein solcher Staat nicht existiert, wird subsidiär auf sonstige feste Bindungen zu einem Staat in Form eines dauernden (gewöhnlichen) Aufenthalts zurückgegriffen.

 

Mit dem AsylG 2005 wurde die Bestimmung des § 8 Abs 6 erlassen, nach der ein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich des Status des subsidiär Schutzberechtigten ohne jegliche Refoulement-Prüfung abzuweisen ist, sofern der Herkunftsstaat des Asylwerbers nicht festgestellt werden kann. Nach dem Willen des Gesetzgebers wird für die Anwendung dieser Bestimmung darauf abgestellt, dass der Asylwerber nicht am Verfahren mitwirkt und offensichtlich einen unrichtigen Herkunftsstaat angibt, indem er seine Staatsangehörigkeit verschleiert. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung darf sich die Asylbehörde nicht in jedem Fall auf diese Voraussetzungen zurückziehen. Sie hat vielmehr den wahren Herkunftsstaat des Asylwerbers von Amts wegen festzustellen, wenn ihr dies auf Grund konkreter Anhaltspunkte im Verfahren auch ohne Mitwirkung des Asylwerbers möglich ist .

 

Um welche Anhaltspunkte für die Ermittlung der Staatsangehörigkeit bzw des Herkunftsstaates es sich dabei handeln kann, richtet sich vor dem Hintergrund der jeweils einschlägigen völkerrechtlichen und nationalstaatlichen staatsbürgerschaftsrechtlichen Regelungen nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls, wobei neben Personaldokumenten, die einen Aufschluss über die Staatsangehörigkeit geben, insbesondere der Geburtsort und die Abstammung in Betracht kommen.

 

Im Revisionsfall hat sich das VwG, ausgehend vom Vorbringen der Revisionswerber, sie hätten die letzten 30 Jahre in der Ukraine verbracht, ausschließlich damit auseinandergesetzt, ob die Ukraine ihr Herkunftsstaat sei. Das VwG legt aber gar nicht dar, auf Grund welcher rechtlicher Annahmen es für die ukrainische Staatsangehörigkeit der Revisionswerber auf deren dortigen Aufenthalt ankommen sollte. Eine in der Niederschrift der mündlichen Verhandlung vor dem VwG am 17. September 2019 und im angefochtenen Erkenntnis erwähnte Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 16. Jänner 2018 betreffend die Staatsbürgerschaft der Ukraine ist weder im Erkenntnis wiedergegeben noch in den Verfahrensakten enthalten.

 

Nach der zuvor dargestellten Rsp hätte sich das VwG vielmehr damit auseinandersetzen müssen, welche Staatsangehörigkeit die Revisionswerber besitzen, oder ob diese etwa staatenlos sind, wofür allfälligen konkreten Anhaltspunkten im Verfahren nachzugehen gewesen wäre. So haben die Revisionswerber im verwaltungsbehördlichen Verfahren angegeben, sie seien sowjetische Staatsangehörige und hätten über sowjetische Inlandspässe verfügt. Der Erstrevisionswerber gab an, er sei in Aserbaidschan geboren worden und gehöre der aserbaidschanischen Volksgruppe an. Die Zweitrevisionswerberin gab an, sie sei in Syrien geboren, habe in Armenien die Schule besucht und gehöre der armenischen Volksgruppe an.

 

Ausgehend davon hätte sich das VwG, wenn es diese Angaben für glaubwürdig erachtete, damit auseinandersetzen müssen, ob die Revisionswerber als ehemalige sowjetische Staatsangehörige und Angehörige der aserbaidschanischen bzw armenischen Volksgruppe (bzw beim Erstrevisionswerber im Hinblick auf dessen Geburtsort) etwa Staatsangehörige Aserbaidschans oder Armeniens geworden sind, oder zumindest darlegen müssen, warum ihm das nicht möglich war.

 

Das angefochtene Erkenntnis war daher, insoweit damit die Beschwerden gegen die Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Aussprüche betreffend die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung von Rückkehrentscheidungen und die Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wurden, einschließlich der Aufhebung der Feststellungen gem § 52 Abs 9 FPG betreffend die Zulässigkeit der Abschiebung in die Ukraine, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gem § 42 Abs 2 Z 3 lit b und c VwGG aufzuheben.