OGH: Eintragung des Gebrauchsmusters mit dem Titel „Verfahren und Kontrollsystem zur Einhaltung von Sicherheitsbestimmungen“
Die Frage der Technizität eines Anspruchsgegenstands ist unabhängig von der Frage seiner Neuheit und Erfindungshöhe zu prüfen; sie ist in einem ersten Schritt gesondert zu untersuchen, und zwar ohne Rücksicht auf den Stand der Technik; Technizität eines Erfindungsmerkmals liegt vor, wenn es einem technischen Zweck dient; Technizität eines aus mehreren Merkmalen zusammengesetzten Anspruchsgegenstands kann bereits dann vorliegen, wenn ein einziges Merkmal – auch wenn es aus dem Stand der Technik bereits bekannt sein sollte – technisch ist; die Technizität bzw Nicht-Technizität von Anspruchsmerkmalen ist auch bei der Beurteilung der Erfindungshöhe eines Anspruchsgegenstands zu berücksichtigen; bei einer Erfindung, die aus einer Mischung technischer und nicht-technischer Merkmale besteht, sind bei Beurteilung des Erfordernisses der erfinderischen Tätigkeit alle Merkmale zu berücksichtigen, die zu diesem technischen Charakter beitragen, während Merkmale, die keinen solchen Beitrag leisten, das Vorliegen erfinderischer Tätigkeit nicht stützen können
§ 1 GMG, § 1 PatG, § 18 GMG, § 19 GMG
GZ 4 Ob 119/20h, 31.08.2020
OGH: Das Rekursgericht hat zutreffend ausgeführt, dass als Gebrauchsmuster Erfindungen auf allen Gebieten der Technik geschützt werden, sofern sie neu sind, auf einem erfinderischen Schritt beruhen und gewerblich anwendbar sind (§ 1 Abs 1 GMG). Ebenso richtig ist, dass im Anmeldeverfahren im Rahmen der Gesetzmäßigkeitsprüfung nach § 18 Abs 1 GMG die Neuheit bzw der erfinderische Schritt und die gewerbliche Anwendbarkeit nicht geprüft werden.
Anderes gilt jedoch für die Technizität. Das aus der Wendung „auf allen Gebieten der Technik“ in § 1 Abs 1 GMG ableitbare Technizitätserfordernis für gebrauchsmusterfähige Erfindungen deckt sich – aufgrund der gleichlautenden Formulierung in § 1 Abs 1 PatG – mit jenem für patentfähige Erfindungen. Aus diesem Grund kann zur Beurteilung der Technizität von gebrauchsmusterfähigen Erfindungen die einschlägige patentrechtliche Jud herangezogen werden. Zur Sicherstellung einer harmonisierten Auslegung der gebrauchsmusterrechtlichen Schutzanforderungen nach den nationalen Rechtsvorschriften im Lichte des Europäischen Patentübereinkommens kann dabei auch auf die Rsp des Europäischen Patentamts zurückgegriffen werden.
Um patent- bzw gebrauchsmusterschutzfähig zu sein, muss der beanspruchte Gegenstand technischen Charakter aufweisen. In Bezug auf computerimplementierte Erfindungen ist in dieser Hinsicht zu beachten, dass „Programmlogiken“ ausdrücklich gebrauchsmusterfähig sind (§ 1 Abs 2 GMG), während Programme für Datenverarbeitungsanlagen nur „als solche“ vom Gebrauchsmusterschutz ausgeschlossen sind (§ 1 Abs 3 Z 3 und Abs 4 GMG). Das Technizitätserfordernis gilt auch für Programmlogiken und „Nicht-als-solche“-Computerprogramme.
Im Anlassfall ist der Gegenstand der zuletzt begehrten Gebrauchsmusteransprüche weder ein Computerprogramm noch eine Programmlogik, sondern ein „Kontrollsystem“, dh eine „Vorrichtung“. Die Fälle des § 1 Abs 2 und § 1 Abs 3 Z 3 und Abs 4 GMG sind daher nicht einschlägig und müssen demnach nicht geprüft werden.
Nach der gefestigten Rsp des Europäischen Patentamts und seiner Beschwerdekammern (vgl EPA T 1173/97 IBM; T 641/00 COMVIK; G 3/08; T 258/03 HITACHI; T 154/04 DUNS) ist die Frage der Technizität eines Anspruchsgegenstands unabhängig von der Frage seiner Neuheit und Erfindungshöhe zu prüfen. Sie ist in einem ersten Schritt gesondert zu untersuchen, und zwar ohne Rücksicht auf den Stand der Technik.
Nach der Rsp liegt Technizität eines Erfindungsmerkmals vor, wenn es einem technischen Zweck dient. Technizität eines aus mehreren Merkmalen zusammengesetzten Anspruchsgegenstands kann bereits dann vorliegen, wenn ein einziges Merkmal – auch wenn es aus dem Stand der Technik bereits bekannt sein sollte – technisch ist (EPA G 3/08, Rn 10.6, unter Hinweis auf T 258/03 HITACHI und T 424/03 MICROSOFT; sog „any hardware“- oder „any technical means“-Ansatz). In der Entscheidung des Europäischen Patentamts zu T 1930/06 wurde etwa der technische Charakter eines Online-Bestellsystems mit der Begründung bejaht, dass sich dieses System technischer Mittel (Rechner, Kommunikationsverbindungen, Datenspeicher, Fax-Generator) bedient.
Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass die Technizität bzw Nicht-Technizität von Anspruchsmerkmalen nach der angeführten Jud des Europäischen Patentamts und seiner Beschwerdekammern auch bei der Beurteilung der Erfindungshöhe eines Anspruchsgegenstands zu berücksichtigen ist: Bei einer Erfindung, die aus einer Mischung technischer und nicht-technischer Merkmale besteht (und wegen des genannten „any technical means“-Ansatzes als Ganzes technischen Charakter aufweist), sind bei Beurteilung des Erfordernisses der erfinderischen Tätigkeit alle Merkmale zu berücksichtigen, die zu diesem technischen Charakter beitragen, während Merkmale, die keinen solchen Beitrag leisten, das Vorliegen erfinderischer Tätigkeit nicht stützen können.
Im Anlassfall liegt Technizität der im Hauptanspruch 1 beanspruchten Vorrichtung „Kontrollsystem“ bereits durch die notorische Technizität der darin zitierten Vorrichtungskomponenten „Datenbank, Kommunikationseinrichtung, Terminal, Prozessor, Display, weiteres Terminal und weiterer Prozessor“ vor; dies gilt auch für die diese Komponenten mitenthaltenden Unteransprüche 2 bis 5.
Die Entscheidung des Rekursgerichts im Rahmen der Gesetzmäßigkeitsprüfung nach § 18 GMG hält der Überprüfung durch den OGH damit nicht stand. In Stattgebung des Revisionsrekurses waren die angefochtene Entscheidung und der erstinstanzliche Beschluss der Technischen Abteilung des Österreichischen Patentamts daher zur Fortsetzung des Anmeldeverfahrens aufzuheben.
Im fortgesetzten Anmeldeverfahren wird der Recherchenbericht (§ 19 GMG) zu erstellen und anschließend über die Veröffentlichung und Registrierung des Gebrauchsmusters (§ 20 GMG) zu entscheiden sein. Bei Erstellung des Recherchenberichts wird besonderes Augenmerk darauf zu legen sein, dass iSd erwähnten Rsp zum „COMVIK-Ansatz“ jene Merkmale der Ansprüche zum erfinderischen Schritt der Anspruchsgegenstände nicht beitragen können, die zum technischen Charakter der Erfindung keinen Beitrag leisten.