VwGH: § 9 Abs 2 AlVG – zur zumutbaren täglichen Wegzeit bei Vollzeit- bzw Teilzeitbeschäftigung
Bei einer (Teilzeit-)Beschäftigung liegt eine Wegzeit grundsätzlich erst dann „wesentlich“ über der Grenze iSd § 9 Abs 2 AlVG - und sie ist daher erst dann „nur unter besonderen Umständen“ zumutbar -, wenn diese Grenze um etwa 50 % überschritten wird
§ 9 AlVG
GZ Ra 2020/08/0031, 09.06.2020
VwGH: Zur zumutbaren täglichen Wegzeit für Hin- und Rückweg iSd § 9 Abs 2 AlVG hat der VwGH in einem eine Vollbeschäftigung betreffenden Fall (VwGH 8.5.2018, Ro 2017/08/0034) ausgeführt:
„Der Gesetzgeber sieht in § 9 Abs 2 AlVG bei einer Vollzeitbeschäftigung eine Wegzeit von „jedenfalls zwei Stunden“ als zumutbar an. Dies entspricht einem Viertel einer täglichen Normalarbeitszeit von acht Stunden pro Arbeitstag (§ 3 Abs 1 AZG). Darüber hinausgehende (durchschnittliche) tägliche Normalarbeitszeiten sind zwar möglich. So kann zB der Kollektivvertag gem § 4 Abs 1 AZG eine tägliche Normalarbeitszeit von bis zu zehn Stunden zulassen. Daraus kann aber in Anbetracht des eindeutigen Wortlautes des § 9 Abs 2 AlVG nicht der Schluss gezogen werden, dass im Fall einer Normalarbeitszeit von zehn Stunden eine Wegzeit von einem Viertel dieser individuellen Normalarbeitszeit (sohin zweieinhalb Stunden) iSd genannten Gesetzesstelle „jedenfalls“ zumutbar wäre. Die in § 9 Abs 2 AlVG genannte Grenze bei Vollzeitarbeit ist unabhängig von der tatsächlich vorliegenden durchschnittlichen täglichen Arbeitszeit maßgeblich. Dies erscheint auch im Hinblick darauf sachgerecht, dass eine längere Normalarbeitszeit die an dem betreffenden Tag zur Verfügung stehende Freizeit reduziert. Dieser Effekt soll nicht durch als zumutbar erachtete längere Wegzeiten verstärkt werden.
Bei einer Vollzeitbeschäftigung liegt eine Wegzeit erst dann „wesentlich“ über der in § 9 Abs 2 AlVG genannten Grenze von „jedenfalls zwei Stunden“ - und sie ist daher erst dann „nur unter besonderen Umständen“ zumutbar -, wenn diese Grenze um etwa 50 % überschritten wird. Ab einer Wegzeit von drei Stunden täglich bedürfte es einer näheren Prüfung, ob derartige besondere Umstände vorliegen, auf Grund derer die festgestellten Wegzeiten ausnahmsweise zumutbar sind.
Die vorliegende Wegzeit von vier Stunden und zwölf Minuten, die die im Fall der Vollzeitbeschäftigung „jedenfalls zumutbare“ Wegzeit von zwei Stunden um 110 % überschreitet, hat jedoch ein Ausmaß, das selbst dann nicht mehr zumutbar ist, wenn Umstände der in § 9 Abs 2 AlVG genannten Art vorliegen sollten. Bei Erreichung des Doppelten des nach dem dritten Satz des § 9 Abs 2 AlVG ‚jedenfalls Zumutbaren‘ erscheint der Begriff ‚wesentlich darüber liegender Wegzeiten‘ im vierten Satz des § 9 Abs 2 AlVG ausgeschöpft: Bei einer Wegzeit von mehr als dem Doppelten von zwei Stunden bei Vollzeitarbeit könnte - von ganz außergewöhnlichen Konstellationen abgesehen, die aber hier nicht vorliegen - nicht mehr bloß von einem ‚darüber Liegen‘ in Bezug auf die genannte Grenze gesprochen werden.“
Diese Rsp kann in ihren maßgeblichen Gesichtspunkten auf die vorliegende Teilzeitbeschäftigung übertragen werden. Bei ihr beträgt die gem § 9 Abs 2 AlVG zumutbare tägliche Wegzeit für Hin- und Rückweg jedenfalls eineinhalb Stunden. Bei einer Teilzeitbeschäftigung liegt eine Wegzeit grundsätzlich erst dann „wesentlich“ über dieser Grenze - und sie ist daher erst dann „nur unter besonderen Umständen“ zumutbar -, wenn diese Grenze um etwa 50 % überschritten wird.
Der Revisionswerber bringt unter Hinweis auf eine von ihm selbst durchgeführte Recherche vor, bei Benützung öffentlicher Verkehrsmittel würde die tägliche Wegzeit an einem Freitag zwei Stunden und 14 Minuten bzw an einem Samstag zwei Stunden und 26 Minuten betragen.
Diese behaupteten Wegzeiten würden die gem § 9 Abs 2 AlVG bei einer Teilzeitbeschäftigung jedenfalls zumutbare tägliche Wegzeit von eineinhalb Stunden an Wochentagen um 49 % und an Samstagen um 62 % überschreiten.
Selbst die behauptete Überschreitung, die im Wochenschnitt bei gleichmäßig verteilter Arbeitszeit etwas mehr als 50 % betragen würde, wäre im vorliegenden Fall iSd § 9 Abs 2 AlVG als zumutbar anzusehen, weil die vorliegende Teilzeitbeschäftigung im Ausmaß von 25 Wochenstunden nicht jene typische Teilzeitbeschäftigung von 20 Wochenstunden ist, von der der Gesetzgeber ausgegangen ist, sodass insoweit besondere Umstände iSd letzten Satzes des § 9 Abs 2 AlVG angenommen werden können.