04.08.2020 Zivilrecht

OGH: Zum Erbrecht eines nach Errichtung des Testaments geborenen Kindes

Die Voraussetzung der „Kausalität der Unkenntnis“ in § 755 Abs 2 ABGB ist auf alle in dieser Bestimmung genannten Fälle anzuwenden


Schlagworte: Erbrecht, Agnationsfall, Testament, noch nicht geboren Kinder, unbekannte Kinder, Unkenntnis, Vermutung, Widerlegung
Gesetze:

 

§ 775 ABGB

 

GZ 2 Ob 87/19m, 26.05.2020

 

OGH: Nach § 775 Abs 2 ABGB wird, wenn der Verstorbene Kinder und deren Nachkommen hatte, von deren Geburt er bei Errichtung einer letztwilligen Verfügung nicht wusste, vermutet, dass er ihnen letztwillig etwas zukommen lassen wollte. Hatte er daneben noch andere Kinder, so wird vermutet, dass er das ihm nicht bekannte Kind zumindest gleich bedacht hätte, wie das am mindesten bedachte Kind. Wenn das ihm nicht bekannte Kind sein einziges war, gilt die letztwillige Verfügung als widerrufen, es sei denn, dass der Verstorbene diese Verfügung auch in Kenntnis von seinem Kind errichtet hätte.

 

Der Fall eines nach Errichtung der Verfügung geborenen Kindes wird zwar in § 775 Abs 2 ABGB nicht mehr ausdrücklich genannt. Trotz des geänderten Wortlauts umfasst aber auch diese Bestimmung den Agnationsfall. Denn die Kenntnis von der Geburt des Deszendenten fehlt sowohl bei schon geborenen, aber dem letztwillig Verfügenden unbekannten, als auch bei noch nicht geborenen Kindern. Da der erste Satzteil dieser Bestimmung auf den Erbfall Bezug nimmt, kommt es für die Existenz der Nachkommen nur auf diesen Zeitpunkt an. Im Hinblick auf den von § 775 Abs 2 ABGB begünstigten Personenkreis kann es keinen Unterschied machen, ob der Nachkomme im Zeitpunkt der Errichtung der letztwilligen Verfügung schon gelebt hat oder nicht. In beiden Fällen fehlt bei Errichtung der letztwilligen Verfügung eine persönliche Nahebeziehung zum Kind und es steht im Zeitpunkt des Erbfalls zum Verstorbenen im gleichen Verwandtschaftsverhältnis. Gründe dafür, sie im Hinblick auf den Schutz vor fehlerhaft motivierten letztwilligen Verfügungen ungleich zu behandeln, sind nicht erkennbar. In einer unterschiedlichen Behandlung läge auch ein Wertungswiderspruch zu § 725 ABGB, wonach der Wegfall eines Abstammungsverhältnisses im Zweifel zur Aufhebung einer letztwilligen Verfügung führt. Denn dann würde das Entstehen eines neuen Abstammungsverhältnisses durch Geburt anders behandelt als dessen Wegfall. Von § 775 Abs 2 ABGB ist daher auch der Fall eines nach Errichtung der letztwilligen Verfügung geborenen Kindes (Agnationsfall) mitumfasst.

 

Hier wurde das Kind nach Errichtung der letztwilligen Verfügung des Erblassers geboren. Gem § 775 Abs 2 Satz 2 ABGB wird daher vermutet, dass ihn der Erblasser letztwillig zumindest gleich bedacht hätte wie das am mindesten bedachte Kind. Die übrigen Kinder als Testamentserben können aber diese gesetzliche Vermutung widerlegen, indem sie nachweisen, dass der Erblasser in Kenntnis davon, dass dieses Kind (rechtlich) als sein eheliches Kind gelte, die letztwillige Verfügung dennoch in gleicher Weise errichtet hätte. Denn die Voraussetzung der „Kausalität der Unkenntnis“ in § 775 Abs 2 ABGB ist auf alle in dieser Bestimmung genannten Fälle anzuwenden.