12.05.2020 Zivilrecht

OGH: Krankengeldversicherung – zur Frage, ob die in Art 6.2 AVB vorgesehene Beendigung der Leistungspflicht, die dem Versicherer die Möglichkeit bietet, sich seiner Leistungspflicht bereits nach kurzer Zeit zu entziehen, eine gröbliche Benachteiligung der Versicherungsnehmer darstellt

Vor dem Hintergrund der im freien Ermessens stehenden Möglichkeit des Versicherers, den Versicherungsvertrag kündigen zu können, erweist sich die – die in Art 20.4 AVB angeführte Leistung verkürzende – Beschränkung der Deckung für schwebende Versicherungsfälle als gröblich benachteiligend iSd § 879 Abs 3 ABGB; dies selbst bei der vorgenommenen Verlängerung der Leistungsfrist um vier Wochen; kann sich doch der Versicherer selbst nach jahrelanger Dauer des Versicherungsverhältnisses bereits kurz nach Eintritt des Versicherungsfalls bloß unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von einem Monat zum Ende der Versicherungsperiode vom Versicherungsvertrag lösen, woraufhin der Versicherungsnehmer selbst unter Berücksichtigung der genannten vierwöchigen Verlängerung der Leistungspflicht unerwartet in die Lage kommen kann, nicht einmal annähernd den in Art 20.4 AVB genannten Leistungsbezug zu erhalten; dies weicht aber deutlich von den Erwartungen des durchschnittlichen Versicherungsnehmers ab


Schlagworte: Versicherungsvertragsrecht, Krankengeldversicherung, Beendigung der Leistungsfrist, gröbliche Benachteiligung
Gesetze:

 

Art 6 AVB, Art 20 AVG, § 879 ABGB

 

GZ 7 Ob 189/19y, 16.12.2019

 

Zwischen den Streitteilen besteht seit 2008 ein Krankengeldversicherungsvertrag für selbständig Erwerbstätige. Diesem liegen die „Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Krankengeldversicherung für selbständig Erwerbstätige nach Tarif KG“ (in Hinkunft AVB) zugrunde, die auszugsweise wie folgt lauten:

 

„§ 1 Gegenstand der Versicherung

 

(1) Der Versicherer gewährt nach Maßgabe der Versicherungsbedingungen und Tarife während der Dauer des Vertragsverhältnisses ein Krankengeld in der versicherten Höhe, wenn die versicherte Person infolge einer Krankheit völlig (hundertprozentig) arbeitsunfähig ist.

 

(2) Krankheit im Sinn der Versicherungsbedingungen ist ein nach medizinischen Begriffen anomaler körperlicher oder geistiger Zustand, auch wenn er als Folge eines Unfalls eintritt.

 

(3) Völlige (hundertprozentige) Arbeitsunfähigkeit liegt nur dann vor, wenn die versicherte Person ihre berufliche Tätigkeit nach objektivem ärztlichen Urteil in keiner Weise ausüben kann und auch nicht ausübt, also weder mitarbeitend noch aufsichtsführend oder leitend in ihrem Beruf tätig ist oder sein kann.

 

(4) Der Versicherungsfall beginnt mit der Erkrankung (Abs 2), in deren Verlauf völlige Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt wird; er endet, sobald nach ärztlichem Befund keine Arbeitsunfähigkeit mehr besteht. Tritt innerhalb von 14 Tagen aus ein und derselben Ursache eine neuerliche völlige Arbeitsunfähigkeit ein, so gelten diese Perioden der Arbeitsunfähigkeit als ein Versicherungsfall.

 

[…]

 

§ 6 Beendigung der Versicherung

 

(1) Das Versicherungsverhältnis endet durch:

 

a) Rücktritt, Anfechtung oder fristlose Kündigung durch den Versicherer,

 

[…]

 

f) Bezug von Leistungen für die Dauer von 364 Tagen innerhalb von drei Versicherungsjahren mit sofortiger Wirkung;

 

g) Kündigung durch den Versicherer,

 

h) Kündigung durch den Versicherungsnehmer,

 

[…]

 

mit Ablauf des Versicherungsjahres;

 

[…]

 

(2) Die Leistungspflicht erlischt in den Fällen des Abs 1 lit a) bis e) und h) bis k) mit dem Ende des Versicherungsverhältnisses, im Fall des Abs 1 lit g nach Ablauf von vier Wochen ab Beendigung des Versicherungsvertrages, spätestens aber mit dem Ende der Anspruchsberechtigung gemäß § 20 Abs 4.

 

[…]

 

§ 7 Dauer der Versicherung, Kündigung

 

(1) Der Versicherungsvertrag wird auf unbestimmte Zeit abgeschlossen. Der Versicherungsnehmer und der Versicherer haben das Recht, das Versicherungsverhältnis zum Ende eines jeden Versicherungsjahres unter Einhaltung einer einmonatigen Frist zu kündigen.

 

[…]

 

§ 20 Leistungen des Versicherers

 

[…]

 

(4) Wurde das Krankengeld für eine oder mehrere Krankheiten innerhalb von drei Versicherungsjahren insgesamt durch 364 Tage bezahlt, so erlischt die Versicherung (§ 6 Abs 1 lit f).

 

[...]“

 

 

OGH: Die Krankenversicherung ist im Regelfall als „lebenslanges“ Vertragsverhältnis konzipiert (vgl § 178i Abs 1 VersVG). Eine Ausnahme vom Ausschluss der ordentlichen Kündigung besteht aber bei dem hier interessierenden Krankengeldversicherungsvertrag. Bei dieser Vertragsart kann der Versicherer sowohl nach § 8 Abs 2 VersVG als auch aufgrund von Vertragsbestimmungen kündigen (§ 178i Abs 2 VersVG).

 

Nach § 8 Abs 2 VersVG kann ein auf unbestimmte Zeit eingegangenes Versicherungsverhältnis von beiden Teilen nur für den Schluss der laufenden Versicherungsperiode gekündigt werden. Die Kündigungsfrist muss für beide Teile gleich sein und darf nicht weniger als einen Monat und nicht mehr als drei Monate betragen. Auf das Kündigungsrecht können die Parteien einverständlich bis zur Dauer von zwei Jahren verzichten.

 

Im Revisionsverfahren ist weder strittig, dass Art 7.1 AVB der Bestimmung des § 8 Abs 2 iVm § 178i Abs 2 VersVG entspricht, noch dass die nach dieser Bestimmung vorgenommene Kündigung der Beklagten wirksam erfolgte. Das Versicherungsverhältnis wurde demnach zum 28. 2. 2016 beendet.

 

Bei der Krankengeldversicherung ist Versicherungsfall die als Folge von Krankheit und Unfall herbeigeführte Arbeitsunfähigkeit.

 

Für die Annahme eines gedehnten (gestreckten) Versicherungsfalls ist wesentlich und maßgeblich nicht etwa das schrittweise Eintreten des Ereignisses, sondern die Tatsache, dass ein bestimmter Zustand fortdauert. Dabei darf die Fortdauer des Ereignisses nicht nur die Pflicht des Versicherers zur Leistung begründen, sondern muss den Umfang der Versicherungsleistung im Einzelfall bestimmen. Typisch sind gedehnte Versicherungsfälle in der Feuerversicherung und in der Krankenversicherung, aber wohl auch in der Betriebsunterbrechungsversicherung. Dem hier zu entscheidenden Rechtsfall liegt unzweifelhaft ein solcher gedehnter Versicherungsfall zugrunde.

 

Endet der Versicherungsvertrag während des gedehnten Versicherungsfalls, so hat der Versicherer regelmäßig auch die Schäden zu decken, die das nach dem Versicherungszeitraum ablaufende Geschehen mit sich bringt. Liegt der Beginn des gedeckten Versicherungsfalls innerhalb des Haftungszeitraums, ist also der Versicherer ungeachtet der Beendigung des Versicherungsfalls im vollen Umfang zur Leistung verpflichtet, soweit keine abweichenden Vereinbarungen getroffen wurden. Dh, bezüglich bereits begonnener Versicherungsfälle bleibt die Deckungspflicht über das Vertragsende hinaus bis zum Ende des Versicherungsfalls aufrecht.

 

Art 6.2 AVB kann von einem verständigen Versicherungsnehmer nur dahin verstanden werden, dass die Deckung auch für gedehnte Versicherungsfälle beschränkt wird, und zwar im hier interessierenden Fall der ordentlichen Kündigung durch den Versicherer auf einen Zeitraum von vier Wochen nach Beendigung des Versicherungsvertrags.

 

Nach § 879 Abs 3 ABGB ist eine in Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder Vertragsformblättern enthaltene Vertragsbestimmung, die nicht eine der beiderseitigen Hauptleistungen betrifft, nichtig, wenn sie unter Berücksichtigung aller Umstände des Falls einen Teil gröblich benachteiligt. Das dadurch geschaffene bewegliche System berücksichtigt einerseits die objektive Äquivalenzstörung und andererseits die „verdünnte Willensfreiheit“. § 879 Abs 3 ABGB geht von einem sehr engen Begriff der „Hauptleistung“ aus. Soweit nicht Versicherungssparte oder Prämienhöhe festgelegt werden, ist die Leistungsbeschreibung in Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Inhaltskontrolle zugänglich, ohne dass es darauf ankäme, ob es sich um die Stufe der primären Umschreibung der versicherten Gefahr oder um Risikoausschlüsse handelt. „Gröbliche Benachteiligung“ iSd § 879 Abs 3 ABGB liegt nicht nur dann vor, wenn der Versicherungszweck geradezu vereitelt oder ausgehöhlt wird, sondern bereits dann, wenn die zu prüfende Klausel eine wesentliche Einschränkung gegenüber dem Standard bringt, den der Versicherungsnehmer von einer Versicherung dieser Art erwarten kann. Bei der Angemessenheitsprüfung nach § 879 Abs 3 ABGB ist objektiv auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses abzustellen. Für diesen Zeitpunkt ist eine umfassende, die Umstände des Einzelfalls berücksichtigende Interessenprüfung vorzunehmen.

 

Nach Art 20.4 AVB (Art 6.1 lit f AVB) erlischt die Versicherung, wenn Krankengeld für einen oder mehrere Krankenstände innerhalb von drei Versicherungsjahren insgesamt durch 364 Tage bezahlt wurde. Das Interesse des Versicherungsnehmers besteht grundsätzlich an einer Leistung aus dem Versicherungsvertrag bis zur Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit, jedenfalls aber bis zu dem in Art 20.4 AVB angeführten Ausmaß. Dieses Interesse steht dem Interesse des Versicherers an der sofortigen Leistungsfreistellung vier Wochen nach Vertragsbeendigung und damit der Beendigung seiner Verpflichtung, auch noch nach Vertragsende ohne einen Anspruch auf Prämienzahlung Versicherungsleistungen erbringen zu müssen, gegenüber.

 

Vor dem Hintergrund der im freien Ermessens stehenden Möglichkeit des Versicherers, den Versicherungsvertrag kündigen zu können, erweist sich aber die – die in Art 20.4 AVB angeführte Leistung verkürzende – Beschränkung der Deckung für schwebende Versicherungsfälle als gröblich benachteiligend iSd § 879 Abs 3 ABGB; dies selbst bei der vorgenommenen Verlängerung der Leistungsfrist um vier Wochen. Kann sich doch der Versicherer – wie hier – selbst nach jahrelanger Dauer des Versicherungsverhältnisses bereits kurz nach Eintritt des Versicherungsfalls bloß unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von einem Monat zum Ende der Versicherungsperiode vom Versicherungsvertrag lösen, woraufhin der Versicherungsnehmer selbst unter Berücksichtigung der genannten vierwöchigen Verlängerung der Leistungspflicht unerwartet in die Lage kommen kann, nicht einmal annähernd den in Art 20.4 AVB genannten Leistungsbezug zu erhalten. Dies weicht aber deutlich von den Erwartungen des durchschnittlichen Versicherungsnehmers ab.

 

Da die Vorinstanzen aufgrund der vom OGH nicht geteilten Rechtsansicht keine Feststellungen trafen, die die inhaltliche Beurteilung des (Nicht-)Bestehens der Leistungspflicht der Beklagten erlauben, liegt insoweit noch keine Spruchreife vor. Die Urteile der Vorinstanzen sind daher aufzuheben und es ist dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufzutragen.