OGH: Nichtig iSd§ 879 Abs 3 ABGB – zur Individualabrede
Eine im Einzelnen ausgehandelte Vertragsbestimmung kann – Verhandlungsbereitschaft vorausgesetzt – auch dann vorliegen, wenn eine Vertragspartei nach inhaltlichen Verhandlungen über den von der Gegenseite vorgeschlagenen Vertragspunkt – und damit ohne eine im Fall von AGB typischerweise angenommene Ungleichgewichtslage – diesem letztendlich vollinhaltlich zustimmt, zB weil es zur Modifikation anderer Vertragspunkte kam
§ 879 ABGB
GZ 3 Ob 189/19v, 22.01.2020
OGH: Gem § 879 Abs 3 ABGB ist eine in AGB oder Vertragsformblättern enthaltene Vertragsbestimmung, die nicht eine der beiderseitigen Hauptleistungen festlegt, jedenfalls nichtig, wenn sie unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles einen Teil gröblich benachteiligt.
Dass in § 879 Abs 3 ABGB auf AGB und Vertragsformblätter abgestellt wird, ist in der zwischen Verwendern von AGB und ihren Vertragspartnern üblicherweise vorzufindenden Ungleichgewichtslage begründet. Der mit AGB konfrontierte Kunde ist nämlich idR in seiner Willensbildung nicht völlig frei, er hat sich den AGB zu fügen oder erhält keinen Vertrag.
Im Hinblick darauf liegen AGB bzw Vertragsformblätter nach der Rsp (nur) dann nicht vor, wenn die Vertragsbedingungen zwischen den Vertragsparteien im Einzelnen ausgehandelt wurden.
Nicht verhandelte und aus der Sicht des Verwenders eines Vertragsformulars jedenfalls beizubehaltende – für ihn also nicht verhandelbare – Klauseln in Vertragsformularen stellen Vertragsformblätter iSd § 879 Abs 3 ABGB dar, auch wenn andere Vertragspunkte erörtert und über Wunsch des Vertragspartners abgeändert wurden. Für das Zustandekommen einer Individualabrede reicht es nicht aus, dass eine Vertragsbestimmung zwischen den Vertragsparteien bloß erörtert und dem Geschäftspartner bewusst gemacht wird. Vielmehr kann von einer individuellen Vereinbarung in Abgrenzung von einem Formularvertrag nur gesprochen werden, wenn der Geschäftspartner auch hinsichtlich des Vertragsinhalts eine Gestaltungsfreiheit zur Wahrung eigener berechtigter Interessen hat; wenn und soweit es ihm also möglich war, die inhaltliche Ausgestaltung der Vertragsbedingungen zu beeinflussen. Sein Vertragspartner muss daher zu einer Abänderung des von ihm verwendeten Textes erkennbar bereit gewesen sein.
Nach den Feststellungen war die Beklagte nicht nur grundsätzlich zu Verhandlungen über die damals in ihrem Mustervertrag standardmäßig enthaltene Mindestzinsvereinbarung bereit, sondern die Vertragsparteien verhandelten auch tatsächlich ua über die Klausel IV (2) des Mustervertrags, und die Gemeinde erwirkte eine (wenn auch nicht den Mindestzinssatz selbst betreffende) Änderung dieser Bestimmung sowie eine völlige Neufassung des 3. Absatzes. Unter diesen Umständen kann hier aber, obwohl der konkrete Inhalt der Vertragsgespräche nicht festgestellt werden konnte, kein Zweifel daran bestehen, dass die grundsätzliche Verhandlungsbereitschaft der Beklagten bezüglich dieser – ua den Zinsfloor beinhaltenden – Klausel für die Gemeinde auch erkennbar war, die sie ja auch zum Teil erfolgreich in Anspruch nahm. Davon, dass von Seiten der Beklagten in den Vertragsverhandlungen – entgegen ihrer festgestellten grundsätzlichen Haltung – im konkreten Fall signalisiert worden wäre, der vorgesehene Zinsfloor sei unverhandelbar, kann nach der getroffenen Negativfeststellung nicht ausgegangen werden. Da der Vertragspunkt IV (2) nämlich seitens der Beklagten grundsätzlich verhandelbar war und auch tatsächlich verhandelt und abgeändert wurde, gehen die Unklarheiten über den Inhalt der der Gespräche zu Lasten der Klägerin, weil es unter diesen Umständen an ihr gelegen gewesen wäre, eine im konkreten Fall gegenteilige Haltung der Beklagten nachzuweisen.
Es liegt daher entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts eine im Einzelnen ausgehandelte Vertragsbestimmung vor. Der Umstand, dass die bereits im Mustervertrag enthaltene Klausel IV (2) in Bezug auf den Zinsfloor unverändert blieb, kann an dieser Beurteilung nichts ändern, weil die Qualifikation einer Bestimmung als im Einzelnen ausgehandelt keine tatsächliche Änderung gegenüber dem Vorschlag der Beklagten voraussetzt. Eine im Einzelnen ausgehandelte Vertragsbestimmung kann also – Verhandlungsbereitschaft vorausgesetzt – auch dann vorliegen, wenn eine Vertragspartei nach inhaltlichen Verhandlungen über den von der Gegenseite vorgeschlagenen Vertragspunkt – und damit ohne eine im Fall von AGB typischerweise angenommene Ungleichgewichtslage – diesem letztendlich vollinhaltlich zustimmt, zB weil es – wie hier – zur Modifikation anderer Vertragspunkte kam.
Eine Inhaltskontrolle dieser Klausel nach § 879 Abs 3 ABGB scheidet daher mangels Vorliegens von AGB oder eines Vertragsformblatts aus. Dieses Ergebnis steht mit der vom Berufungsgericht zitierten Entscheidung 3 Ob 47/16g nicht in Widerspruch, weil im dortigen Verfahren kein Einwand der Individualabrede erhoben worden war.