OGH: Zur „Zwecklosigkeit“ einer Dienstbarkeit
Eine völlige Zwecklosigkeit eines Wohnungsgebrauchsrechts liegt nicht vor, solange die Berechtigte ihr Gebrauchsrecht mit Unterstützung einer Pflegekraft nutzen kann, auch wenn sie sich entschieden hat, im Pflegeheim zu leben
§§ 483 f ABGB, §§ 521 ff ABGB
GZ 4 Ob 202/19p, 26.11.2019
OGH: Wer Inhaber eines Dienstbarkeitsrechts bzw hier eines (obligatorischen) Wohnungsgebrauchsrechts ist und welche Befugnisse ihm zustehen, richtet sich nach dem Inhalt des Bestellungsvertrags. Bei der Vertragsauslegung, die nach den Regeln der §§ 914, 915 ABGB zu erfolgen hat, ist zunächst vom Wortlaut auszugehen. Dabei ist dem von den Parteien den einzelnen Vertragsbestimmungen beim Vertragsabschluss beigelegten Verständnis Vorrang zu geben. Nur dann, wenn sich ein solches übereinstimmendes Verständnis nicht ermitteln lässt, hat eine normative Interpretation unter besonderer Berücksichtigung des Vertragszwecks stattzufinden. Bei der Frage, ob hier mit dem Übergabevertrag auch der Beklagten (als Lebensgefährtin des Übergebers) ein Wohnungsgebrauchsrecht eingeräumt wurde, handelt es sich somit um eine Frage der Vertragsauslegung, die idR keine erhebliche Rechtsfrage begründet.
Die persönliche Dienstbarkeit des Gebrauchs berechtigt zur Nutzung einer fremden Sache ohne Verletzung ihrer Substanz. Der praktisch wichtigste Fall dieser Dienstbarkeit ist jener des Wohnungsgebrauchsrechts (§ 521 ABGB), das den Berechtigten auf Lebzeiten die Befugnis gewährt, die vom Recht umfassten Gebäudeteile im Rahmen seiner Bedürfnisse zum eigenen Bedarf zu verwenden.
Neben der Freiheitsersitzung (§ 1488 ABGB), einem dauernden Untergang der dienenden oder herrschenden Sache oder einem Verzicht des Berechtigten kann insbesondere bei persönlichen Dienstbarkeiten nur deren völlige Zwecklosigkeit oder die dauernde Unmöglichkeit oder die gänzliche Unwirtschaftlichkeit der Ausübung des Nutzungsrechts ihren weiteren Rechtsbestand (ex lege) beenden. Völlig zwecklos ist ein Wohnungsgebrauchsrecht nur dann, wenn es seinen Sinn ganz verloren hat und seine Ausübung nicht nur vorübergehend, sondern dauernd unmöglich geworden ist. Jeder auch nur einigermaßen ins Gewicht fallende Vorteil genügt für die Aufrechterhaltung des erworbenen Rechts. Eine völlige Zwecklosigkeit eines Wohnungsgebrauchsrechts liegt daher nicht vor, solange die Berechtigte ihr Gebrauchsrecht mit Unterstützung einer Pflegekraft nutzen kann, auch wenn sie sich entschieden hat, in einem Pflegeheim zu leben.