24.12.2019 Zivilrecht

OGH: § 1330 ABGB und politische Aussagen – zu pointierter Kritik (hier: des Abstimmungsverhaltens von Mandataren)

In einer politischen Auseinandersetzung muss es den Opponenten in einer demokratischen Gesellschaft gestattet sein, wertende gegensätzliche Standpunkte auch in scharfer Form zu formulieren und Argumente, die für den eigenen Standpunkt sprechen, darzulegen; eine politische Wertung, die nicht den Vorwurf eines persönlich unehrenhaften Verhaltens des politischen Gegners enthält, ist nicht tatbildlich iSd § 1330 Abs 1 oder Abs 2 ABGB


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Ehrverletzung, Rufschädigung, Politiker, pointierte Kritik
Gesetze:

 

§ 1330 ABGB

 

GZ 6 Ob 134/19b, 24.10.2019

 

OGH: Wie der EGMR bereits im Fall Lingens gegen Österreich (EuGRZ 1986, 424) betont hat, besteht unter dem Aspekt des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK – das bereits auf der Tatbestandsebene in die Prüfung einzufließen hat – eine Wechselwirkung zwischen der Bedeutung des kritischen Anliegens und der Schärfe der Kritik, die bei der Einschätzung der politischen Kontroverse zu berücksichtigen ist.

 

Dabei sind die Grenzen der zulässigen Kritik bei Politikern und generell bei Personen des öffentlichen Lebens weiter zu ziehen als bei Privatpersonen. Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist großzügig auszulegen, wenn es um zur Debatte stehende politische Verhaltensweisen geht. Im Interesse einer freien, demokratischen Diskussion muss Kritik erlaubt sein; sie muss allerdings in einer Form vorgebracht werden, die das absolut geschützte Recht auf Ehre nicht verletzt, und, sofern sie einen nachprüfbaren Tatsachenkern enthält, auch erweislich wahr sein. Weil Politiker erhöhter Kritik unterworfen sind, soweit sie in öffentlicher Funktion handeln, genügt im Rahmen politischer Auseinandersetzung bereits ein „dünnes Tatsachensubstrat“ für die Zulässigkeit einer Wertung. Eine in die Ehre eingreifende politische Kritik auf Basis unwahrer Tatsachenbehauptungen verstößt aber gegen § 1330 ABGB.

 

Die Grenzen zulässiger Kritik an Politikern in Ausübung ihres öffentlichen Amts sind im Allgemeinen weiter gesteckt als bei Privatpersonen, weil sich Politiker unweigerlich und wissentlich der eingehenden Beurteilung ihrer Worte und Taten durch die Presse und die allgemeine Öffentlichkeit aussetzen. Politiker müssen daher einen höheren Grad an Toleranz zeigen, besonders wenn sie selbst öffentliche Äußerungen tätigen, die geeignet sind, Kritik auf sich zu ziehen.

 

In einer politischen Auseinandersetzung muss es den Opponenten in einer demokratischen Gesellschaft gestattet sein, wertende gegensätzliche Standpunkte auch in scharfer Form zu formulieren und Argumente, die für den eigenen Standpunkt sprechen, darzulegen. Eine politische Wertung, die nicht den Vorwurf eines persönlich unehrenhaften Verhaltens des politischen Gegners enthält, ist nicht tatbildlich iSd § 1330 Abs 1 oder Abs 2 ABGB.

 

Vorliegender Fall

 

Die Äußerung ist im Gesamtkontext zu sehen: Für die Aussage „S***** sagt: Nein zu Ökostrom“ ist der Umstand, dass die Klägerin im Bundesrat gegen die Ökostrom-Novelle stimmte, ausreichender Tatsachenkern. Davon ausgehend ist der Schluss, die Klägerin sei „nicht gegen“ Atomstrom, ein zulässiges Werturteil. Die zweite Zeile „Ganz Österreich ist gegen Atomstrom – nur die S***** nicht“ kann nicht isoliert betrachtet werden. Überdies macht es einen Unterschied, ob behauptet wird, die Klägerin sei „für Atomstrom“ oder „nicht gegen“ Atomstrom. Durch ihr Abstimmungsverhalten im Bundesrat kann zugespitzt argumentiert werden, dass sie sich dadurch nicht aktiv gegen Atomstrom eingesetzt hat bzw als einzige gegen die Novelle gestimmt hat. Die Aussagen wurden im engen Zusammenhang mit der öffentlichen Debatte zur Ökostrom-Novelle getroffen. Sie waren als politische Meinungsäußerung einer gegnerischen Partei erkennbar und auch nicht beleidigend. Auch für den durchschnittlichen Leser ist erkennbar, dass es sich bei den beiden weiteren Aussagen um Werturteile des politischen Gegners handelt, der einen anderen Standpunkt vertritt.

 

Im Bereich der „beleidigenden“ Werturteile wurden etwa Aussagen wie „Mietenmafia“, „Trottel“ oder „Kellernazi“ als zulässiges Werturteil mit teils dünnem Tatsachensubstrat erachtet. IS dieser Rsp des OGH und des EGMR ist die inkriminierte Aussage zulässig.