OGH: Zurückschieben mit Kfz in eine Kreuzung und Sturz einer Fahrradfahrerin
Die Erstbeklagte schaute (nur) vor dem Rückwärtsfahren über beide Schultern und in die Spiegel; es wäre aber nötig gewesen, auch beim Zurückfahren selbst den Kopf zu wenden, um das ganze Umfeld beobachten zu können, zumal sie beim Zurückschieben in eine Kreuzung, wo mit Querverkehr zu rechnen ist, zur besonderer Vorsicht und Rücksichtnahme verpflichtet war; auch der Umstand, dass im vorliegenden Fall die Kollision nicht erweislich ist, erfordert keine andere Beurteilung, weil ohne Zusammenstoß der Sturz der Erstklägerin durch das Erschrecken durch das Zurückschieben des Pkw verursacht worden wäre, was ebenso wie ein Sturz durch Kollision eine adäquate Unfallursache darstellte (Verschuldensteilung von 1:3 zugunsten der Erstklägerin)
§ 1295 ff ABGB, § 1304 ABGB, § 14 StVO, EKHG
GZ 2 Ob 65/19a, 22.10.2019
OGH: Verschuldensabwägung:
Abgesehen von besonders normierten Verboten des Rückwärtsfahrens (§ 8b Abs 1 Z 1, § 46 Abs 4 lit f StVO) regelt die StVO das Rückwärtsfahren lediglich insoweit, als vorgeschrieben ist, dass sich ein Lenker beim Rückwärtsfahren von einer geeigneten Person einweisen lassen muss, wenn es die Verkehrssicherheit erfordert (§ 14 Abs 3 StVO).
Die Rsp hat folgenden Grundsatz herausgebildet: Wer zur besonderen Vorsicht und Rücksichtnahme auf Grund eines der allgemeinen Fahrordnung zuwiderlaufenden Fahrmanövers, wie es das Rückwärtsfahren ist, verpflichtet ist, kann einen Vorrang nicht in Anspruch nehmen. Daraus ergibt sich, dass hier der Erstbeklagten weder der Rechtsvorrang nach § 19 Abs 1 StVO noch derjenige gegenüber aus Wohnstraßen Ausfahrenden nach § 76b Abs 3 letzter Satz StVO zukommt.
Mit dem vorliegenden Fall sind die Fälle 8 Ob 111/72 ZVR 1973/146 und 8 Ob 41/73 ZVR 1974/83 annähernd vergleichbar.
Im erstgenannten Fall war der aus Sicht des klagenden vorwärts fahrenden Mopedlenkers von rechts kommende beklagte Pkw-Lenker mit 10 km/h rückwärts in die Kreuzung eingefahren. Der Kläger hätte bei prompter Bremsreaktion auf das Erblicken des Fahrzeugs des Beklagten bzw des Erkennens der Rückwärtsbewegung die Kollision vermeiden können. Der OGH billigte die vom Berufungsgericht vorgenommene Verschuldensteilung von 1:3 zugunsten des Klägers: Der Beklagte könne keinen Vorrang in Anspruch nehmen und wäre verpflichtet gewesen, beim Zurückstoßen in die Kreuzung besonders vorsichtig zu fahren und den Querverkehr nicht zu behindern. Der Kläger habe nur einen Reaktionsfehler zu verantworten.
Im zweiten Fall stieß ein Lkw mit Schrittgeschwindigkeit in die Kreuzung mit einer Landesstraße zurück, ohne dass der Lenker des Lkw Sicht auf den Verkehr auf der Landesstraße hatte. Auf der Landesstraße näherte sich ein Lenker eines Motorfahrrads mit etwa 30 km/h dem aus seiner Sicht von rechts zurückstoßenden Lkw an. Es kam zur Kollision, die der Lenker des Motorfahrrads zwar nicht durch Bremsen, wohl aber durch Auslenken nach links hätte verhindern können. Auch hier billigte der OGH die Verschuldensteilung des Berufungsgerichts von 1:3 zugunsten des Motorfahrradlenkers: Der Lkw-Lenker habe keinen Rechtsvorrang gehabt und hätte beim Rückwärtsfahren besonders vorsichtig sein müssen. Dem Mopedfahrer könne nur eine Reaktionsverspätung von 1 bis 1,5 Sekunden vorgeworfen werden.
Die Unterschiede der Tatsachenfeststellungen dieser Entscheidungen zum vorliegenden Sachverhalt fallen nicht entscheidend ins Gewicht: Während im zweiten Fall der Zurückschiebende keine Sicht auf den Querverkehr hatte, hatte hier die Erstbeklagte schon Sicht. Dies kann sie aber nicht entlasten, weil es ihr dann eben möglich gewesen wäre, durch entsprechende Aufmerksamkeit die herannahende Erstklägerin wahrzunehmen. Nach den Feststellungen schaute die Erstbeklagte (nur) vor dem Rückwärtsfahren über beide Schultern und in die Spiegel. Es wäre aber nötig gewesen, auch beim Zurückfahren selbst den Kopf zu wenden, um das ganze Umfeld beobachten zu können, zumal sie beim Zurückschieben in eine Kreuzung, wo mit Querverkehr zu rechnen ist, zur besonderer Vorsicht und Rücksichtnahme verpflichtet war. Auch der Umstand, dass im vorliegenden Fall die Kollision nicht erweislich ist, erfordert keine andere Beurteilung, weil ohne Zusammenstoß der Sturz der Erstklägerin durch das Erschrecken durch das Zurückschieben des Pkw verursacht worden wäre, was ebenso wie ein Sturz durch Kollision eine adäquate Unfallursache darstellte.
Haftungselemente nach EKHG:
Entgegen der Ansicht der Revisionswerberin begründet das Rückwärtsfahren für sich allein keine außergewöhnliche Betriebsgefahr des Pkw: In der Entscheidung 2 Ob 158/82 ZVR 1983/306 wurde etwa bei bloßem Zurückfahren außergewöhnliche Betriebsgefahr verneint und nur gewöhnliche angenommen. Angesichts des hier bei beiden Unfallbeteiligten vorliegenden Verschuldens – auch die Erstklägerin trifft ein nicht zu vernachlässigender Aufmerksamkeitsfehler – besteht auch im Anwendungsbereich des § 7 EKHG kein Anlass, die gewöhnliche Betriebsgefahr für die Beklagten haftungsverschärfend heranzuziehen.
Ergebnis:
IS dieser Erwägungen (vgl auch 2 Ob 180/79 ZVR 1981/11) hält der erkennende Senat auch im vorliegenden Fall eine Verschuldensteilung von 1:3 zugunsten der Erstklägerin für angemessen. Demnach ist das Leistungsbegehren der Erstklägerin als dem Grunde nach mit drei Vierteln zu Recht bestehend auszusprechen und ein Viertel davon abzuweisen.