OGH: § 1325 ABGB – zur Zurechnung unfallbedingter psychischer Beeinträchtigungen
Krankheitserscheinungen, die durch den Unfall nur deshalb ausgelöst wurden, weil die Anlage zur Krankheit beim Verletzten bereits vorhanden war, sind iSd Adäquanz in vollem Umfang Unfallsfolge, sofern die krankhafte Anlage nicht auch ohne die Verletzung in absehbarer Zeit den gleichen gesundheitlichen Schaden herbeigeführt hätte; daher haftet nach einhelliger Rsp der Schädiger etwa auch für die Folgen einer anlagebedingten, aber durch den Unfall ausgelösten Neurose, wobei es unerheblich ist, ob diese erst durch den Unfall und seine Folgen entstanden oder durch eine schon vor dem Unfall bestehende psychische Beschaffenheit begünstigt worden ist; kann der Geschädigte seiner durch den Unfall und dessen Folgen ausgelösten oder begünstigten psychotischen Verhaltensweise nicht wirksam begegnen, kann ihm eine schuldhafte Verletzung der Schadensminderungspflicht nicht anspruchsmindernd entgegengehalten werden
§§ 1295 ff ABGB, § 1325 ABGB
GZ 2 Ob 221/18s, 24.06.2019
OGH: Aus dem Zusammenhang aller – auch disloziert getroffenen – Feststellungen ergibt sich, dass der Kläger aufgrund dessen verletzlicher Persönlichkeitsstruktur fast übergangslos von einer posttraumatischen Belastungsstörung in eine depressiv ausgestaltete posttraumatische Verbitterungsstörung verfiel, weil er die von ihm gehegte Erwartungshaltung, weiterhin aufgrund der (unfallbedingten) posttraumatischen Belastungsstörung arbeitsunfähig zu sein, nicht erfüllt sah.
Ursächlich für ein bestimmtes Ereignis iSe „natürlichen“ Kausalität ist jeder Umstand, der nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Geschehensablauf ein anderer gewesen wäre. Daher ist der Unfall auch für die posttraumatische Verbitterungsstörung kausal im Rechtssinn, weil ohne ihn die nicht erfüllte Erwartung des Klägers, aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung arbeitsunfähig zu sein, nicht eingetreten wäre. Dass ein Fall der überholenden Kausalität vorliege und die Verbitterungsstörung auch ohne den Unfall gleichermaßen eingetreten wäre, hat die beklagte Partei weder behauptet noch unter Beweis gestellt. Mit der Verneinung der Kausalität im Rahmen der erstinstanzlichen Feststellungen wurde daher im vorliegenden Fall keine Tatfrage gelöst, sondern eine Rechtsfrage (unrichtig) beurteilt, sodass insoweit keine Bindung des OGH besteht.
Fragen des prima-facie-Beweises stellen sich nicht, weil sich die „natürliche“ Kausalität ohnehin aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt.
Adäquanz:
Nach der Rsp ist ein Schaden schon dann adäquat verursacht, wenn die generelle Eignung der Ursache, den Schaden herbeizuführen, nicht außerhalb der allgemeinen menschlichen Erfahrung liegt. Krankheitserscheinungen, die durch den Unfall nur deshalb ausgelöst wurden, weil die Anlage zur Krankheit beim Verletzten bereits vorhanden war, sind iSd Adäquanz in vollem Umfang Unfallsfolge, sofern die krankhafte Anlage nicht auch ohne die Verletzung in absehbarer Zeit den gleichen gesundheitlichen Schaden herbeigeführt hätte. Daher haftet nach einhelliger Rsp der Schädiger etwa auch für die Folgen einer anlagebedingten, aber durch den Unfall ausgelösten Neurose, wobei es unerheblich ist, ob diese erst durch den Unfall und seine Folgen entstanden oder durch eine schon vor dem Unfall bestehende psychische Beschaffenheit begünstigt worden ist. Dies gilt auch für Fälle der in früheren Entscheidungen so genannten „Begehrungsneurosen“, also der krankheitswertigen Wunschvorstellung, aufgrund des Unfalls weiterhin krank zu sein, selbst wenn diese ihre Ursache nicht mehr nur in der Verletzung durch den Unfall, sondern auch in der Persönlichkeitsstruktur des Verletzten hat.
Korrektiv für überhöhte Schadenersatzforderungen eines derartig betroffenen Geschädigten ist seine Pflicht, einsichtsgemäß den Schaden zu vermeiden oder gering zu halten, bei deren schuldhafter (vorwerfbarer) Verletzung er den Schaden ganz oder teilweise iSd § 1304 ABGB selbst zu tragen hat. Die Behauptungs- und Beweislast dafür trifft die beklagte Partei, die ein solches Vorbringen zur posttraumatischen Verbitterungsstörung nicht erstattet hat. Kann der Geschädigte allerdings seiner durch den Unfall und dessen Folgen ausgelösten oder begünstigten psychotischen Verhaltensweise nicht wirksam begegnen, kann ihm eine schuldhafte Verletzung der Schadensminderungspflicht nicht anspruchsmindernd entgegengehalten werden.
Ein eine andere Bewertung rechtfertigender Unterschied zwischen der in der Rsp bereits erörterten „Begehrungsneurose“ und dem hier festgestellten Zustand des Klägers in Form einer posttraumatischen Verbitterungsstörung, weil sich seine Erwartungen, weiterhin arbeitsunfähig zu sein, nicht erfüllt haben, ist nicht erkennbar, zumal sie in einer „depressiven Ausgestaltung“ vorhanden ist.
Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist die festgestellte posttraumatische Verbitterungsstörung, die durch den Unfall (mit-)ausgelöst wurde, daher als adäquate Unfallsfolge anzusehen.
Ein gegenteiliges Ergebnis ist auch aus der in der Revisionsbeantwortung ins Treffen geführten Entscheidung 6 Ob 213/11h nicht ableitbar. Dort führte die als Folge eines ärztlichen Kunstfehlers eingetretene Verbitterungsstörung deshalb nicht zu einem Anspruch auf Ersatz des Verdienstentgangs, weil sie bei fachgerechter Vorgangsweise des Arztes gleichermaßen eingetreten wäre. Dies trifft auf den vorliegenden Fall nicht zu.
Die Entscheidungsgründe der Vorinstanzen tragen die Abweisung des Klagebegehrens daher nicht. Da Feststellungen dazu, ob und in welchem Umfang der Kläger aufgrund der posttraumatischen Verbitterungsstörung in seiner Arbeitsfähigkeit eingeschränkt gewesen ist und welchen Verdienstentgang er dadurch allenfalls erlitten hat, bisher nicht getroffen wurden, ist eine Aufhebung und Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht unumgänglich.