OGH: Zur Frage, ob das Pflegegeld für den behinderten Sohn, welches an die Klägerin überwiesen wird, als Eigeneinkommen der Klägerin iSd § 66 EheG zu werten ist und damit ihren Unterhaltsanspruch gegenüber dem Beklagten mindert
Die Klägerin nahm das Pflegegeld gerade nicht für sich in Anspruch; sie verzichtete vielmehr erkennbar auf die Verwendung des Pflegegeldes für eigene Bedürfnisse; in Folge dessen kann das Pflegegeld nicht als Eigeneinkommen der Klägerin gewertet werden
§ 66 EheG, § 94 ABGB, § 18 BPGG
GZ 9 Ob 9/19t, 27.02.2019
OGH: Das Pflegegeld hat den Zweck, in Form eines Beitrags pflegebedingte Mehraufwendungen pauschaliert abzugelten, um pflegebedürftigen Personen soweit wie möglich die notwendige Betreuung und Hilfe zu sichern sowie die Möglichkeit zu verbessern, ein selbstbestimmtes, bedürfnisorientiertes Leben zu führen (§ 1 BPGG). Es liegt grundsätzlich in der Hand des Pflegebedürftigen zu entscheiden, für welche Pflegeleistungen er das Pflegegeld zweckentsprechend verwendet.
Das Pflegegeld wird an den Anspruchsberechtigten ausgezahlt. Ist der Anspruchsberechtigte geschäftsunfähig oder nur beschränkt geschäftsfähig, so ist das Pflegegeld dem gesetzlichen Vertreter auszuzahlen. Ist für einen Anspruchsberechtigten ein Sachwalter bestellt, so ist diesem das Pflegegeld auszuzahlen, wenn die Angelegenheiten, mit deren Besorgung er betraut worden ist, die Empfangnahme dieser Leistung umfassen (§ 18 BPGG idF BGBl I 2013/3). § 18 BPGG geht – auch in der ab 1. 7. 2018 geltenden Fassung des ErwSchAG BMASGK – klar von der Empfangszuständigkeit des gesetzlichen Vertreters aus.
Die Klägerin war im entscheidungsrelevanten Zeitraum Sachwalterin des Sohnes für alle Angelegenheiten. Ihr wurde demnach das Pflegegeld als Sachwalterin überwiesen.
Dass die Klägerin „erkennbar auf die Verwendung des Pflegegelds für eigene Bedürfnisse verzichtet“, ist eine dem Tatsachenbereich zugehörige Schlussfolgerung des Berufungsgerichts aus den erstgerichtlichen Feststellungen – insbesondere jene, dass die Klägerin Liegenschaften und eine Wohnung verkaufte, um (auch) den Unterhalt des Sohnes zu bestreiten – und einer Überprüfung durch den OGH, der nicht Tatsacheninstanz ist, entzogen.
Bei Erbringung von Pflegeleistungen für ein pflegebedürftiges Kind durch die unterhaltsberechtigte Person im Familienverband ist nach stRsp das von dem Kind bezogene Pflegegeld bei der Unterhaltsbemessung als (fiktives) Eigeneinkommen der unterhaltsberechtigten Person anzurechnen, soweit das Pflegegeld nicht zur Abdeckung notwendiger Fremdleistungen in Anspruch genommen wird. Die tatsächliche Verwendung des Pflegegeldes für notwendige Fremdleistungen geht aber dem fiktiven „Entlohnungsanspruch“ der unterhaltsberechtigten Person vor. Dieser Rsp liegt die Konstellation zu Grunde, dass die unterhaltsberechtigte Person das Pflegegeld für sich verwendet bzw – mit anderen Worten – für sich in Anspruch nimmt:
So wurde in 6 Ob 641/90 darauf abgestellt, „dass die Mutter als finanzielle Abgeltung der ihrer Tochter tatsächlich erbrachten Pflegeleistungen die Mittel, die das Kind außer den Schadenersatzzahlungen vom Land als Pflegegeld erhält, zur Befriedigung eigener Unterhaltsbedürfnisse verwendet“ und dieser Vorgang unterhaltsrechtlich als Erzielung eigener Einkünfte gewertet.
In 6 Ob 123/97z wendete die Mutter der sie pflegenden Tochter finanzielle Mittel zu, die zumindest die Höhe des Pflegegeldes erreichten. Die Qualifikation des Pflegegeldes als Eigenkommen der Tochter, die auch selbst behauptet hatte, dass die Mutter ihr das Pflegegeld „zur Verfügung stellt“, durch die Vorinstanz wurde nicht beanstandet.
In 10 ObS 121/07b (Pkt 2.4) sprach der OGH aus, dass die ihren behinderten Sohn pflegende Mutter nicht gezwungen sein soll, im Fall einer Konkurrenz mit anderen Leistungen jedenfalls einen Teil des vom Sohn bezogenen Pflegegeldes zur Abgeltung ihrer eigenen Leistungen in Anspruch zu nehmen, andernfalls auch der Pflegebedürftige nicht mehr frei in der Wahl wäre, für welche Leistungen er das Pflegegeld heranzieht.
Im vorliegenden Fall nahm die Klägerin das Pflegegeld gerade nicht für sich in Anspruch. Sie verzichtete vielmehr erkennbar auf die Verwendung des Pflegegeldes für eigene Bedürfnisse. In Folge dessen kann das Pflegegeld nicht als Eigeneinkommen der Klägerin gewertet werden. Auf die Frage, ob die festgestellten Aufwendungen für die Anschaffung eines Computers, eines Autos, eines Rollmobils usw als – iSv RIS-Justiz RS0123117 – „Abdeckung notwendiger Fremdleistungen“ qualifiziert werden können, kommt es daher nicht an.
Das Pflegegeld dient nach der Rsp gerade und nur dazu, den krankheitsbedingten Mehraufwand des Pflegebedürftigen, nicht aber seine allgemeinen Bedürfnisse abzugelten. Es bezweckt keine Erhöhung des Einkommens des Betroffenen, sondern soll ausschließlich dazu beitragen, Pflegeleistungen „einkaufen“ zu können und es dem Pflegebedürftigen ermöglichen, sich die erforderlichen Pflegemaßnahmen selbst zu organisieren. Vom selben Gedanken ausgehend vertritt Müller die Ansicht, dass das Pflegegeld vom Sachwalter in jedem Fall zur Deckung von Pflegeaufwand einzusetzen sei. Bei Pflege des Betroffenen im privaten Umfeld solle die „Wahlmöglichkeit“ zur Verwendung des Pflegegeldes lediglich darin bestehen, entweder professionelles Pflegepersonal in Anspruch zu nehmen oder das Pflegegeld zur Abgeltung der Pflegeleistungen durch Angehörige oder sonst nahestehende Personen zu verwenden. Jede andere Verwendung des Pflegegeldes, insbesondere dessen Ansparen, sei als zweckwidrige Verwendung und daher als pflichtwidriges Verhalten des Sachwalters zu sehen. Die Richtigkeit dieser Ansicht im hier vorliegenden Fall, dass das zum Sachwalter bestellte Familienmitglied den Betroffenen pflegt, das Pflegegeld aber nicht für sich in Anspruch nimmt, kann offen bleiben. Selbst wenn man es bejahen würde, dass auch in einem solchen Fall das Pflegegeld nicht für die Finanzierung sonstiger Angelegenheiten des Betroffenen verwendet werden dürfe, wäre dies allein für das Sachwalterschaftsverfahren, insbesondere die Genehmigungsfähigkeit der von der Klägerin als Sachwalterin zu legenden Pflegschaftsrechnung (§ 134 AußStrG) von Bedeutung. Es bliebe aber weiterhin dabei, dass die Klägerin das Pflegegeld nicht für sich in Anspruch nahm, was dessen Qualifizierung als Eigeneinkommen der Klägerin ausschließt.
Von einem schuldlos oder minder schuldig geschiedenen Ehegatten kann den Umständen nach nicht erwartet werden, dass er eine Erwerbstätigkeit auch dann fortsetzt, wenn er die altersmäßigen und sonstigen Voraussetzungen für die Frühpension erreicht hat; ihm ist eine weitere volle Erwerbstätigkeit grundsätzlich nicht mehr zumutbar. Der OGH hat auch bereits entschieden, dass von einem unterhaltspflichtigen Pensionisten, der das gesetzliche Pensionsalter bereits erreicht hat und über ein überdurchschnittliches Einkommen verfügt, keine Übernahme einer Pflegetätigkeit in einem die gesetzliche Pflicht übersteigenden Ausmaß verlangt werden kann und dass ein in dieser Form ausgeübter Verzicht auf ein Zusatzeinkommen aus einer Pflegetätigkeit dem Unterhaltspflichtigen nicht als vorwerfbare Verletzung seiner Anspannungsobliegenheit gegenüber der Unterhaltsberechtigten angelastet werden kann. Der OGH begründete dies damit, dass es zwar aus der Sicht der unterhaltsberechtigten Klägerin nichts anderes als einen Verzicht auf ein Zusatzeinkommen aus der Pflegetätigkeit darstelle, wenn der unterhaltsverpflichtete 65-jährige Beklagte für seine beinahe 100-jährige Mutter Pflegeleistungen freiwillig erbringt, dafür jedoch kein Entgelt annimmt, dass es aber einen krassen Wertungswiderspruch bilden würde, wenn jener Unterhaltspflichtige, der freiwillig die Vollpflege eines nahen Angehörigen übernimmt und damit seine Lebensgestaltung zweifellos massiven Einschränkungen unterwirft, dafür jedoch keine Entlohnung anzunehmen bereit ist oder verlangt, mit einer Unterhaltsbemessung gegenüber seiner geschiedenen Gattin auf Basis eines fiktiv erhöhten Einkommens „bestraft“ würde, während der Unterhaltspflichtige, der sich die Mühen einer Pflegetätigkeit im Familienkreis von vornherein erspart und mangels Rechtspflicht dazu auch nicht verhalten werden kann, einer solchen Belastung nicht ausgesetzt ist.
Auf das Vorliegen eines überdurchschnittlichen Einkommens kann es bei der Frage der Zumutbarkeit der Übernahme einer Pflegetätigkeit in einem die gesetzliche Pflicht übersteigenden Ausmaß durch einen Pensionisten nicht ankommen. Dass die Klägerin ein geringeres Einkommen als der Pensionist im zitierten Fall hat, ist damit ohne Belang. Damit ist die Entscheidung 3 Ob 63/13f jedoch auf den hier vorliegenden umgekehrten Fall der Pflege durch eine unterhaltsberechtigte Pensionistin übertragbar. Es kann von ihr nicht verlangt werden, das Pflegegeld für sich in Anspruch zu nehmen, sodass ihr diesbezüglicher Verzicht auf eine Entlohnung der Pflegetätigkeit keine Verletzung der Anspannungsobliegenheit gegenüber dem unterhaltsverpflichteten Beklagten darstellt.