OGH: Unterlassung der Befragung der Kinder gem § 105 Abs 1 Satz 1 AußStrG durch das Gericht
Obsorgeentscheidungen haben eine zukunftbezogene Rechtsgestaltung zum Inhalt; sie können nur dann sachgerecht sein, wenn sie auf einer aktuellen, bis in die jüngste Gegenwart reichenden Tatsachengrundlage beruhen; zwar ist der Wunsch des Minderjährigen für die ausschließlich am Kindeswohl zu orientierende Entscheidung nicht allein maßgeblich; erst nach der vom Erstgericht durchzuführenden Befragung der Kinder und Erforschung deren aktuellen Willens kann auch deren Sicht als Verfahrensergebnis in eine alle maßgeblichen Umstände berücksichtigende Entscheidung einbezogen werden
§ 105 AußStrG, § 180 ABGB
GZ 10 Ob 82/18h, 22.01.2019
OGH: Gem § 105 Abs 1 AußStrG hat das Gericht Minderjährige im Verfahren über Pflege und Erziehung oder das Recht auf persönlichen Verkehr grundsätzlich persönlich zu hören. § 105 AußStrG sieht diese Befragung vor, um dem Kind eine unbeeinflusste Meinungsäußerung zu ermöglichen. Nur aus den in § 105 Abs 2 AußStrG genannten zwei Gründen – soweit durch die Befragung oder durch einen damit verbundenen Aufschub der Verfügung das Wohl des Minderjährigen gefährdet wäre oder im Hinblick auf die Verständnisfähigkeit des Minderjährigen offenbar eine überlegte Äußerung zum Verfahrensgegenstand nicht zu erwarten ist – kann die Befragung überhaupt unterbleiben. Hinweise darauf, dass einer der Gründe des § 105 Abs 2 AußStrG gegeben ist, liegen nicht vor. Schon daher kommt dem Argument des Rekursgerichts, die Unterlassung der Befragung der Kinder hätte keine Auswirkungen auf das Verfahrensergebnis gehabt, weil eine maßgebliche Veränderung der Verhältnisse iSd § 180 Abs 3 ABGB nicht vorliege, keine Berechtigung zu.
Im vorliegenden Fall erfolgte eine Befragung der Kinder – auch zur Wohnsituation – lediglich am 11. 7. 2016 durch den gerichtlichen Sachverständigen im Zug der Erstellung dessen (zweiten) Gutachtens, daher fast zwei Jahre vor dem Zeitpunkt der Beschlussfassung des Erstgerichts.
Gem § 105 Abs 1 Satz 2 AußStrG kann der Minderjährige auch durch den Kinder- und Jugendhilfeträger, die Familiengerichtshilfe, durch Einrichtungen der Jugendgerichtshilfe oder in anderer geeigneter Weise, etwa durch Sachverständige, gehört werden, wenn er das 10. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, wenn dies seine Entwicklung oder sein Gesundheitszustand erfordert oder wenn sonst eine Äußerung der ernsthaften und unbeeinflussten Meinung des Minderjährigen nicht zu erwarten ist. Abgesehen davon, dass beide Kinder bereits am 11. 7. 2016 das 10. Lebensjahr vollendet hatten, gab und gibt es nach der Aktenlage keinerlei Hinweise darauf, dass eine der in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen vorliegt. Der Sachverständige selbst weist, wie die Mutter in ihrem Rechtsmittel zutreffend anführt, in seinem Ergänzungsgutachten vom 27. 9. 2016 darauf hin, dass die beiden Kinder „nunmehr auch einen nicht zu übergehenden Willen“ besitzen.
Obsorgeentscheidungen haben eine zukunftbezogene Rechtsgestaltung zum Inhalt. Sie können nur dann sachgerecht sein, wenn sie auf einer aktuellen, bis in die jüngste Gegenwart reichenden Tatsachengrundlage beruhen. Zwar ist der Wunsch des Minderjährigen für die ausschließlich am Kindeswohl zu orientierende Entscheidung nicht allein maßgeblich. Erst nach der vom Erstgericht durchzuführenden Befragung der Kinder und Erforschung deren aktuellen Willens kann auch deren Sicht als Verfahrensergebnis in eine alle maßgeblichen Umstände berücksichtigende Entscheidung einbezogen werden.
Das Unterbleiben der persönlichen Einvernahme der mittlerweile 13 und 15 Jahre alten Kinder bildet daher einen wesentlichen Verfahrensmangel, der im Hinblick auf die von § 105 AußStrG angestrebte Wahrung des Kindeswohls ungeachtet der Verneinung des im Rekurs gerügten Verfahrensmangels durch das Rekursgericht aufgegriffen werden muss.