OGH: § 273 ASVG und Zumutbarkeit eines sozialen Abstiegs
Dass selbst bei (fiktiver) Zugrundelegung des unveränderten Fortbestehens des sozialen Werts der Kenntnisse und Fähigkeiten der Klägerin entsprechend der Verwendungsgruppe 4 deren zumutbare Verweisbarkeit auf Beschäftigungen entsprechend der Beschäftigungsgruppe 3 zu bejahen sei, wird in der Revision nicht in Zweifel gezogen; inwiefern in einer Rechtsrüge – wenn sie erhoben worden wäre – erfolgreich geltend gemacht hätte werden können, dass im Anlassverfahren doch eine Ausnahme vom Grundsatz der Zulässigkeit einer Verweisung auch auf Tätigkeiten der nächstniedrigeren Beschäftigungs- oder Verwendungsgruppe eines (ähnlichen) Kollektivvertrags zu machen gewesen wäre, wird nicht aufgezeigt
§ 273 ASVG
GZ 10 Ob 112/18w, 22.01.2019
OGH: Es entspricht der Lebenserfahrung, dass Berufstätige, die ihren Beruf längere Zeit nicht ausgeübt haben, später nur mehr in geringer eingestuften Berufstätigkeiten eingesetzt werden, was bei der Frage der Zumutbarkeit eines sozialen Abstiegs nicht unberücksichtigt bleiben kann. Bei der Lösung der Frage des sozialen Abstiegs ist daher jener Wert entscheidend, den die Allgemeinheit der vorhandenen Ausbildung und den vorhandenen Kenntnissen und Fähigkeiten zum Zeitpunkt des Stichtags beimisst („sozialer Wert“). Die Einstufung einer Tätigkeit in einem Kollektivvertrag kann ein Indiz für die Einschätzung des sozialen Werts sein und daher zur Beurteilung des sozialen Abstiegs herangezogen werden.
Auch die Ansicht, selbst bei (fiktiver) Zugrundelegung des unveränderten Fortbestehens des sozialen Werts der Kenntnisse und Fähigkeiten zum Stichtag entsprechend der Verwendungsgruppe 4 sei eine Verweisung auf Tätigkeiten der Beschäftigungsgruppe 3 für die Klägerin nicht mit einem unzumutbaren sozialen Abstieg verbunden, steht mit der stRsp in Einklang, nach der im Rahmen der Verweisung gewisse Einbußen an Entlohnung und sozialem Prestige hinzunehmen sind. In diesem Sinn ist die Verweisung von Angestellten auch auf Tätigkeiten der nächstniedrigeren Beschäftigungs- oder Verwendungsgruppe eines Kollektivvertrags idR mit keinem unzumutbaren sozialen Abstieg verbunden. Beispielweise wurde die Verweisung einer überwiegend als Buchhalterin, Lohnverrechnerin und Fakturistin in der Verwendungsgruppe 4 des Kollektivvertrags für die Angestellten im Handwerk und Gewerbe eingestuften Versicherten auf einfache Sachbearbeitertätigkeiten entsprechend der Beschäftigungsgruppe 3 der Angestelltenkollektivverträge als zulässig angesehen.
Dass selbst bei (fiktiver) Zugrundelegung des unveränderten Fortbestehens des sozialen Werts der Kenntnisse und Fähigkeiten der Klägerin entsprechend der Verwendungsgruppe 4 deren zumutbare Verweisbarkeit auf Beschäftigungen entsprechend der Beschäftigungsgruppe 3 zu bejahen sei, wird in der Revision nicht in Zweifel gezogen. Inwiefern in einer Rechtsrüge – wenn sie erhoben worden wäre – erfolgreich geltend gemacht hätte werden können, dass im Anlassverfahren doch eine Ausnahme vom Grundsatz der Zulässigkeit einer Verweisung auch auf Tätigkeiten der nächstniedrigeren Beschäftigungs- oder Verwendungsgruppe eines (ähnlichen) Kollektivvertrags zu machen gewesen wäre, wird nicht aufgezeigt.
Die Klägerin hält unter Hinweis auf die Entscheidung 10 ObS 12/14h daran fest, im Hinblick auf das Verbot der Diskriminierung Behinderter (Art 7 Abs 1 letzter Satz B-VG), dürfe sich ein Qualifikationsverlust infolge langer behinderungsbedingter Abwesenheit vom Arbeitsmarkt, insbesondere während Zeiten des Bezugs von Invaliditätspension, Berufsunfähigkeitspension oder Rehabilitationsgeld nicht zum Nachteil der versicherten Person auswirken. Es hätte daher unbeachtlich bleiben müssen, dass ihre Kenntnisse, die sie für die Ausübung ihrer Chefsekretärinnentätigkeit benötigte, infolge ihrer langen Absenz vom Arbeitsmarkt, herabgesunken sind und zum Stichtag nur mehr der Beschäftigungsgruppe 3 entsprochen haben.
Dazu ist vorerst darauf hinzuweisen, dass eine Feststellung, wonach die Klägerin im Jahr 1992 ihre Angestelltentätigkeit krankheitshalber oder behinderungsbedingt zugunsten einer selbständigen Erwerbstätigkeit aufgeben musste, nicht besteht. Soweit die Revisionswerberin ihr Vorbringen darauf aufbaut, dass ihre Abwesenheit vom Arbeitsmarkt ab dem Ende ihrer Angestelltentätigkeit bis zum Stichtag und das damit einhergehende Absinken der Qualifikation eine Folge ihrer Berufsunfähigkeit sei, entfernt sie sich somit vom festgestellten Sachverhalt. Weiters setzen sich die Revisionsausführungen darüber hinweg, dass bei Beurteilung der Zumutbarkeit des sozialen Abstiegs auf den Stichtag 1. 7. 2000 abzustellen war und somit ohnedies nur die vor diesem Stichtag liegende Absenz vom Arbeitsmarkt berücksichtigt wurde, während sämtliche nach diesem Stichtag liegenden Zeiten des Bezugs einer (jeweils) befristeten Berufsunfähigkeitspension außer Betracht blieben.
Im Übrigen ist der Revision entgegenzuhalten, dass bei der Beurteilung des sozialen Abstiegs nach stRsp nicht jene Kenntnisse und Fähigkeiten maßgeblich sind, die die Klägerin am Stichtag 1. 7. 2000 noch besaß, sondern (abstrakt) darauf abzustellen ist, welchen noch vorhandenen Wert die Allgemeinheit den von der Klägerin seinerzeit erworbenen Kenntnissen und Fähigkeiten beimisst („sozialer Wert“). Dies wird damit begründet, dass es andernfalls zu einer Benachteiligung jener Versicherten käme, die wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen nicht mehr in der Lage sind, der vor dem Stichtag ausgeübten Tätigkeit weiterhin nachzugehen, weil der Verlust von Kenntnissen und Fähigkeiten idR gerade auf den geistigen und körperlichen Zustand des Versicherten zum Zeitpunkt des Stichtags zurückgeht. Auf diese Weise wird selbst im Fall einer krankheitshalber oder behinderungsbedingten Abwesenheit vom Arbeitsmarkt eine gleichheitswidrige Diskriminierung vermieden.