01.04.2019 Zivilrecht

OGH: § 231 ABGB – zu krankheitsbedingtem Sonderbedarf volljähriger, schwer behinderter Kinder durch den Zukauf von Pflegedienstleistungen

Fest steht, dass die Antragstellerin aufgrund ihrer Behinderung der dauernden Betreuung und Beaufsichtigung bedarf; dieser Pflegebedarf geht über den Regelbedarf gesunder „Kinder“ der gleichen Altersgruppe weit hinaus, die einer derartigen Betreuung gar nicht bedürfen; die Vorinstanzen haben den durch den Einsatz externer Pflegepersonen entstandenen Aufwand daher zutreffend als Sonderbedarf qualifiziert, der in den besonderen Verhältnissen der Antragstellerin begründet ist; die Vorinstanzen haben aber zutreffend berücksichtigt, dass die Heranziehung von Pflegekräften gleichzeitig mit einer Verminderung der Betreuungsleistungen der Mutter einhergeht; in einem solchen Fall ist der für das Pflegepersonal anfallende Aufwand, sofern eine „Deckungslücke“ besteht, weder isoliert dem (geldunterhaltspflichtigen) Antragsgegner noch der die Antragstellerin im Übrigen betreuenden Mutter allein aufzuerlegen, sondern ein billiger Ausgleich dieser finanziellen Aufwendungen vorzunehmen


Schlagworte: Familienrecht, Kindesunterhalt, Sonderbedarf, volljährige schwer behinderte Kinder, Zukauf von Pflegedienstleistungen
Gesetze:

 

§ 231 ABGB

 

GZ 6 Ob 175/18f, 24.01.2019

 

OGH: Jede Unterhaltsregelung, ob durch gerichtliche Entscheidung oder (gerichtlichen) Vergleich, unterliegt der Umstandsklausel, sodass wesentliche Änderungen der Verhältnisse auf Antrag zu einer Neufestsetzung des Unterhaltsanspruchs führen. Die wesentliche Änderung hat sich auf die Bemessungsfaktoren oder die der Bemessung zugrunde gelegten Sachverhaltselemente zu beziehen. Eine solche Änderung liegt darüber hinaus auch bei einer Änderung der gesetzlichen Regelung oder einer tiefgreifende Änderung der Rsp vor.

 

Im Allgemeinen hat die Neubemessung der Unterhaltsansprüche infolge einer Änderung der Verhältnisse nicht völlig losgelöst von der bestehenden vergleichsweisen Regelung und der in ihr zum Ausdruck kommenden Konkretisierung der Bemessungsgrundsätze zu erfolgen. Das gilt aber – von einer ausdrücklichen bezüglichen Vereinbarung der Parteien abgesehen – jedenfalls dann nicht, wenn die Bemessung des bisher aufgrund des Vergleichs geregelten Unterhalts nicht bloß aufgrund einer Änderung der Einkommensverhältnisse, sondern auch unter Berücksichtigung weiterer für die Unterhaltsbemessung maßgeblicher Umstände (geänderte Bedürfnisse oder Sorgepflichten) vorgenommen werden muss. Entscheidend ist die Auslegungsfrage, was die Parteien im Einzelfall mit ihrem Unterhaltsvergleich für die Zukunft regeln wollten.

 

Im vorliegenden Fall liegt der Bemessung der Unterhaltspflicht des Antragsgegners für Sonderbedarf eine Beschäftigung externer Pflegekräfte im Umfang von 20 Wochenstunden neben der Betreuung in Schule und Hort (nunmehr in einer Werkstätte) zugrunde. Dieser Sachverhalt hat sich gegenüber den Verhältnissen im Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses durch eine Reduktion der von der Mutter persönlich erbrachten Betreuungsleistungen und durch die Erhöhung des Umfangs der Pflegedienstleistungen maßgeblich verändert, was die Neubemessung des Unterhaltsanspruchs für Sonderbedarf rechtfertigt.

 

Da der Vergleich keine ausdrückliche Regelung für eine Ausweitung des Umfangs der externen Pflegedienstleistungen enthält, redlichen Parteien aber zu unterstellen ist, in der durch die Behinderung geschaffenen schwierigen Betreuungssituation allen Entwicklungen in angemessener Weise Rechnung tragen zu wollen, kann dem im Jahr 2015 abgeschlossenen Vergleich keine bindende Regelung für zukünftige Entwicklungen entnommen werden.

 

Sonderbedarf ist jener Mehrbedarf eines unterhaltsberechtigten Kindes, der sich aus der Berücksichtigung der beim Regelbedarf (allgemeiner Durchschnittsbedarf) bewusst außer Acht gelassenen Umstände des Einzelfalls ergibt. Ob ein solcher Sonderbedarf vom Unterhaltspflichtigen zu decken ist, hängt davon ab, wodurch er verursacht wurde und ob er dem Unterhaltspflichtigen angesichts der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Eltern des Kindes zumutbar ist. Generell kann gesagt werden, dass ein Sonderbedarf durch Momente der Außergewöhnlichkeit, Dringlichkeit und Individualität bestimmt wird, also nicht mit weitgehender Regelmäßigkeit für die Mehrzahl der unterhaltsberechtigten Kinder zusteht. Darunter fallen hauptsächlich Aufwendungen für die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit und die Persönlichkeitsentwicklung sowie Ausbildungskosten. Maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalls. Die Behauptungs- und Beweispflicht für die den Sonderbedarf begründenden Umstände trifft den Unterhaltsberechtigten.

 

Sonderbedarf ist immer nur bei „Deckungsmangel“ zuzusprechen. Er darf daher weder aus der Differenz zwischen dem Regelbedarf und dem konkret ausgemessenen Unterhalt bestritten werden, noch durch Sozialleistungen von dritter Seite (wie Krankenkassen- oder Privatversicherungsleistungen, Waisenrente, Pflegegeld udgl) gedeckt sein.

 

Erbringt der Unterhaltsschuldner ohnedies Unterhaltsleistungen, die den Regelbedarf beträchtlich übersteigen, ist im Rahmen der Unterhaltsbemessung Sonderbedarf nur dann zu ersetzen, wenn dessen Aufwendungen höher sind als die Differenz zwischen dem Regelbedarf und der laufenden monatlichen Unterhaltsverpflichtung. Dies gilt allerdings dann nicht, wenn der Unterhaltsberechtigte lediglich deshalb nicht Unterhaltsbeiträge entsprechend der vollen Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen erhält, weil er schon die Luxusgrenze erreicht hat. Dann muss der Sonderbedarf zusätzlich zugesprochen werden, weil bei einer solchen Konstellation das Argument der nicht zu billigenden Überalimentierung des Unterhaltsberechtigten ins Leere ginge, sind doch Leistungen aus dem Titel des Sonderbedarfs zweckbestimmt und stehen nicht zur freien Verfügung des Unterhaltsberechtigten.

 

Soll eine öffentlich-rechtliche Leistung ausschließlich einen bestimmten Sonderbedarf des Unterhaltsberechtigten abdecken, so kann dieser Sonderbedarf vom Unterhaltsberechtigten in diesem Umfang gegen den Unterhaltspflichtigen nicht mehr als erhöhter Unterhaltsanspruch geltend gemacht werden. So dient etwa das einem Kind zukommende Pflegegeld dem Einkauf der gegenüber einem nicht behinderten Kind erhöhten Pflege- und Betreuungsleistungen durch Drittpflege und/oder einen eigenen Elternteil.

 

Bei den Kosten der Betreuung durch Dritte unterscheidet die Rsp vielmehr grundsätzlich danach, ob diese allein oder überwiegend der Entlastung des betreuenden Haushaltsführers dient, oder ob sie allein oder überwiegend im Kindesinteresse liegt.

 

Der Elternteil, in dessen Haushalt der Unterhaltsberechtigte lebt, erbringt gem § 231 Abs 2 Satz 1 ABGB seinen Beitrag zum Unterhalt durch die Betreuungsleistung. Daher hat er die Kosten, die durch die teilweise Übertragung dieser Betreuung an Dritte auflaufen, regelmäßig dann zu tragen, wenn die Übertragung der Betreuung nur in seinem Interesse gelegen ist. Dies kann etwa bei Inanspruchnahme einer Tagesmutter, Krabbelstube, oder eines Kindergartens der Fall sein. Hingegen liegt eine außerhäusliche Betreuung – nichts anderes kann für die Heranziehung dritter Pflegekräfte gelten – allein oder überwiegend im Kindesinteresse, wenn sie durch berücksichtigungswürdige Gründe in der Person des Kindes notwendig gemacht wird, wie dies etwa bei besonderer Pflegebedürftigkeit behinderter oder kranker Kinder der Fall ist. Für derartige Fälle hat grundsätzlich der nicht betreuende Elternteil die Kosten zu tragen, oder es ist ein billiger Ausgleich der Geldkosten zwischen den Eltern geboten (4 Ob 532/90 zu den Kosten der Betreuung eines behinderten Kindes durch eine Tagesmutter; 10 Ob 17/12s zu den ungedeckten Kosten der Betreuung eines im Haushalt der Mutter lebenden behinderten Kindes durch Drittpersonen).

 

Bei der gebotenen Abwägungsentscheidung ist zu beachten, dass die Grundregel des § 231 ABGB, die einen anteilsmäßigen Beitrag beider Elternteile vorsieht, den Elternteil, in dessen Haushalt das Kind lebt, nicht dazu verpflichtet, im Fall eines überdurchschnittlichen Betreuungsbedarfs in einem derart hohen Ausmaß Betreuungsleistungen zu erbringen, dass für den geldunterhaltspflichtigen anderen Elternteil aus dem Betreuungsmehrbedarf gar keine oder nur geringe finanzielle Aufwendungen erwachsen. Auch die aus dem Eltern-Kind-Verhältnis entspringende, gleichermaßen gegenüber volljährigen Kindern geltende Beistandspflicht gem § 137 Abs 2 ABGB ist einerseits durch die Zumutbarkeit für den Einzelnen und andererseits durch die gesellschaftliche Üblichkeit der Leistung begrenzt. Eine generelle Verpflichtung des haushaltsführenden Elternteils zur Erbringung weit überdurchschnittlicher Betreuungsleistungen zwecks Entlastung des geldunterhaltspflichtigen Elternteils kann daher nicht angenommen werden.

 

Es liegt vielmehr auf der Hand, dass die Angemessenheit eines Ausgleichs der Geldkosten für Betreuungsmehrbedarf stets von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängt.

 

Im vorliegenden Fall steht fest, dass die Antragstellerin aufgrund ihrer Behinderung der dauernden Betreuung und Beaufsichtigung bedarf. Dieser Pflegebedarf geht über den Regelbedarf gesunder „Kinder“ der gleichen Altersgruppe weit hinaus, die einer derartigen Betreuung gar nicht bedürfen. Die Vorinstanzen haben den durch den Einsatz externer Pflegepersonen entstandenen Aufwand daher zutreffend als Sonderbedarf qualifiziert, der in den besonderen Verhältnissen der Antragstellerin begründet ist.

 

Es kann daher keine Rede davon sein, dass die Beschäftigung der Pflegekräfte alleine oder überwiegend im Interesse der Mutter erfolge. Ob das therapeutische Ziel, die Antragstellerin an eine Betreuung durch dritte Personen zu gewöhnen und ihr Sozialkontakte zu ermöglichen, auch mit einem geringeren Umfang an Drittbetreuung erreichbar ist, ändert nichts an der Qualifikation der Pflegekosten als in den Verhältnissen der Antragstellerin begründeten Sonderbedarf.

 

Die Vorinstanzen haben aber zutreffend berücksichtigt, dass die Heranziehung von Pflegekräften gleichzeitig mit einer Verminderung der Betreuungsleistungen der Mutter einhergeht. In einem solchen Fall ist der für das Pflegepersonal anfallende Aufwand, sofern eine „Deckungslücke“ besteht, weder isoliert dem (geldunterhaltspflichtigen) Antragsgegner noch der die Antragstellerin im Übrigen betreuenden Mutter allein aufzuerlegen, sondern ein billiger Ausgleich dieser finanziellen Aufwendungen vorzunehmen.

 

Der festgestellte Sachverhalt reicht jedoch für die Vornahme der gebotenen Billigkeitsentscheidung nicht aus.

 

Insbesondere steht nicht fest, aus welchen Gründen der Umfang der Heranziehung von Pflegekräften in einem derartigen Ausmaß erhöht wurde. Das Rekursgericht weist zwar darauf hin, dass sich aus dem Pflegegeldgutachten eine tendenzielle Vergrößerung des Pflegebedarfs im Zuge der pubertären Entwicklung ergibt. Ob und gegebenenfalls inwiefern eine solche seit dem Abschluss des Unterhaltsvergleichs am 23. 10. 2015 eingetreten ist, steht aber nicht fest. Damit ist aber auch nicht ersichtlich, ob sich – abgesehen von der Notwendigkeit der dauernden Betreuung – etwa die Intensität der Betreuungsleistungen und dadurch die persönliche Beanspruchung der Mutter geändert hat. Auch auf deren im Lauf der Jahre allenfalls veränderte körperliche und psychische Belastbarkeit wird im Zuge einer Billigkeitsentscheidung Bedacht zu nehmen sein.

 

Darüber hinaus wird auch der Umfang der von der betreuenden Mutter ausgeübten Berufstätigkeit und das von ihr erzielte Einkommen zu berücksichtigen sein, um auch ihr gegenüber beurteilen zu können, in welchem Umfang ihr die Deckung der Pflegekosten angesichts ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse zumutbar ist.