26.11.2018 Zivilrecht

OGH: Versicherungsschein – zur Frage, wie lange ein Versicherungsnehmer berechtigt ist, die in § 3 Abs 2 und 3 VersVG geregelten Rechte auszuüben

Der Versicherer hat nach Treu und Glauben bei bekannt unklarer Rechtslage seiner Nebenleistungspflicht nach § 3 VersVG jedenfalls solange nachzukommen, bis Klarheit durch Gesetz und/oder Judikatur geschaffen wird; er muss es dem Versicherungsnehmer ermöglichen, seine Rechtsposition zu wahren, wofür die Kenntnis der in § 3 VersVG genannten Urkunden Voraussetzung sein kann; von § 3 Abs 3 VersVG sind nur vom Versicherungsnehmer oder in seinem Namen abgegebene Erklärungen umfasst


Schlagworte: Versicherungsvertragsrecht, Versicherungsschein, Auskunftspflicht, Verjährung
Gesetze:

 

§ 3 VersVG, § 12 VersVG

 

GZ 7 Ob 221/17a, 31.10.2018

 

OGH: Nach § 3 Abs 2 VersVG kann der Versicherungsnehmer, ua wenn der Versicherungsschein abhanden gekommen ist, vom Versicherer die Ausstellung einer Ersatzurkunde verlangen.

 

§ 3 Abs 3 Satz 1 VersVG räumt dem Versicherungsnehmer das Recht ein, jederzeit Abschriften der Erklärungen zu fordern, die er mit Bezug auf den Vertrag abgegeben hat.

 

Eine zeitliche Begrenzung dieser Ansprüche ist dem Gesetz nicht zu entnehmen.

 

In der deutschen Lehre wird zur insofern vergleichbaren Rechtslage vertreten, dass das Recht nach § 3 VVG so lange besteht, bis das Versicherungsverhältnis auf beiden Seiten beendet und vollständig abgewickelt ist. Davon umfasst ist auch der Anspruch auf Überprüfung der ordnungsgemäßen Abwicklung aller versicherungsrechtlichen Pflichten, etwa iZm Bezugsrechten bei Lebensversicherungen.

 

Der OGH hat sich mit der Auskunftspflicht des Versicherers nach § 3 VersVG bisher noch nicht auseinandergesetzt.

 

In aller Regel treten zu den für den Vertrag typischen wesentlichen Hauptleistungspflichten auch Nebenleistungspflichten, welche die Vorbereitung und reibungslose Abwicklung der Hauptleistung ermöglichen sollen. Eine derartige Nebenleistungspflicht ist auch die in § 3 VersVG geregelte Auskunftspflicht, dient sie doch dazu, zu garantieren, dass sich der Versicherungsnehmer über die relevanten Bestimmungen seines Versicherungsvertrags informieren und seine Rechte wahren kann. Sie besteht als Nebenleistungspflicht nur so lange, wie noch Hauptleistungspflichten aus dem Vertrag bestehen und verjährt mit diesen.

 

Der Nebenleistungsanspruch nach § 3 VersVG besteht während des Vertrags jederzeit, nach seiner Beendigung nur bis zur vollständigen Abwicklung, also so lange, bis keine Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag mehr geltend gemacht werden können, solche also noch nicht verjährt sind. Der Versicherungsnehmer muss in der Klage darlegen, dass ihm noch ein Anspruch aus dem Versicherungsvertrag zustehen könnte.

 

Gem § 12 Abs 1 VersVG verjähren Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag innerhalb von drei Jahren nach Fälligkeit. Davon umfasst sind alle Ansprüche, die ihre Grundlage im Versicherungsvertrag haben, die also ihrer Rechtsnatur nach auf dem Versicherungsvertrag beruhen.

 

Der Lebensversicherungsvertrag wurde mit dem Kläger unstrittig per 1. 9. 2013 abgerechnet und die Kapitalabfindung ausbezahlt. Allfällige Ansprüche aus der Abrechnung könnten daher frühestens nach drei Jahren verjähren. Die Nebenleistungspflicht nach § 3 VersVG besteht daher jedenfalls genausolang. Die Fragen, wann die hier in Frage stehenden Ansprüche verjähren und ob allenfalls für die Geltendmachung der Nebenleistungspflicht nach § 3 VersVG eine absolute Frist gilt, wenn innerhalb dieser keine Anhaltspunkte für den Versicherer bestehen, dass danach noch ein Rechtsanspruch des Versicherungsnehmers bestehen könnte, brauchen hier mangels Relevanz nicht näher untersucht werden.

 

Kurz nach Abrechnung des Lebensversicherungsvertrags per 1. 9. 2013, nämlich am 19. 12. 2013, erging die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Endress gegen Allianz Lebensversicherungs AG zu C-209/12. Der EuGH hat zu einem deutschen Ausgangsverfahren Art 15 Abs 1 der Richtlinie 90/619/EWG (Zweite Richtlinie Lebensversicherung) in der durch die Richtlinie 92/96/EWG (Dritte Richtlinie Lebensversicherung) geänderten Fassung iVm Art 31 der Richtlinie 92/96/EWG dahin ausgelegt, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Rücktrittsrecht spätestens ein Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie erlischt, wenn der Versicherungsnehmer nicht über das Recht zum Rücktritt belehrt worden ist. Die Auswirkungen des Endress-Urteils auf Lebensversicherungsverträge wurden auch in der Literatur vielfach diskutiert. Der Beklagten als Lebensversicherer musste damit zwangsläufig weit vor Ablauf von drei Jahren nach Abrechnung des Lebensversicherungsvertrags (September 2016) bekannt sein, dass aufgrund der Entscheidung des EuGH eine unklare Rechtslage dazu besteht, ob und unter welchen Voraussetzungen den Versicherungsnehmern allfällige Ansprüche wegen unterbliebener/unrichtiger Rechtsbelehrung über ihr Rücktrittsrecht auch noch danach zustehen. Ebenso klar war, dass zur Beurteilung von solchen Ansprüchen auch Auskünfte über den Versicherungsvertrag iSv § 3 VersVG nötig werden können. In diesem Zusammenhang kommt der Grundsatz von Treu und Glauben zum Tragen.

 

Der OGH hat bereits vielfach betont, dass das Versicherungsverhältnis in besonderem Maße von Treu und Glauben beherrscht wird. Diese starke Betonung von Treu und Glauben soll der Tatsache Rechnung tragen, dass jeder der beiden Vertragspartner auf die Unterstützung durch den jeweils anderen angewiesen ist.

 

Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass der Versicherer nach Treu und Glauben bei bekannt unklarer Rechtslage seiner Nebenleistungspflicht nach § 3 VersVG jedenfalls solange nachzukommen hat, bis Klarheit durch Gesetz und/oder Judikatur geschaffen wird. Er muss es dem Versicherungsnehmer ermöglichen, seine Rechtsposition zu wahren, wofür die Kenntnis der in § 3 VersVG genannten Urkunden Voraussetzung sein kann.

 

Eine umfassende Klärung der Rechtslage ist bislang noch nicht erfolgt. So hat der OGH im Hinblick auf die Vorlage des Vorabentscheidungsersuchens des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien (GZ 13 C 738/17z-12 [13 C 8/18y, 13 C 21/18k, 13 C 2/18s] vom 12. Juli 2018, Rechtssache C-479/18, UNIQA Österreich Versicherungen ua) sein Verfahren zu 7 Ob 144/18d bis zur Entscheidung des EuGH unterbrochen. Er bezog sich ua auch auf die Vorlagefrage 3. zur Abklärung der Zulässigkeit des Rücktritts nach Kündigung des Vertrags und Auszahlung des Rückkaufswerts, somit nach vollständiger Erfüllung der beidseitigen Pflichten.

 

Der Kläger kann daher Ansprüche nach § 3 VersVG geltend machen.

 

§ 3 Abs 3 Satz 1 VersVG räumt dem Versicherungsnehmer das Recht ein, jederzeit Abschriften der Erklärungen zu fordern, die er mit Bezug auf den Vertrag abgegeben hat. Von dieser Bestimmung sind daher nur vom Versicherungsnehmer oder in seinem Namen abgegebene Erklärungen umfasst.

 

Der Versicherungsantrag (Punkt 1. des Begehrens), unterliegt als eine vom Versicherungsnehmer abgegebene Erklärung unzweifelhaft § 3 Abs 3 VersVG.

 

Weiters begehrt der Kläger Abschriften vom „Klauselverzeichnis“ und vom „Langtext der Klauseln“ (Punkte 2. und 3.) sowie von den Allgemeinen und Besonderen Bedingungen zum Versicherungsvertrag (Punkt 4.). Da mit dem Begriff „Klauseln“ die Versicherungsbedingungen bezeichnet werden, kann sein Begehren zu den Punkten 2. und 3. nur so verstanden werden, dass der Kläger eine Abschrift der Polizze verlangt. Dieses Begehren ist zu prüfen, weil das Gericht berechtigt ist, dem Urteilsspruch eine klare und deutliche, vom Begehren abweichende Fassung zu geben, wenn sich diese mit dem Begehren im Wesentlichen deckt.

 

Nach § 3 Abs 2 VersVG kann der Versicherungsnehmer, ua wenn der Versicherungsschein abhanden gekommen ist, vom Versicherer die Ausstellung einer Ersatzurkunde verlangen. Dies bedeutet, dass er auch eine bloße Abschrift der Polizze begehren kann.

 

Mit den jeweils vereinbarten Klauseln wird der Inhalt des abgeschlossenen Versicherungsvertrags näher determiniert. Sie sind daher Teil des Versicherungsscheins (der Polizze), der die Beweisurkunde über den vollständigen Inhalt des Versicherungsvertrags ist.

 

Die Abschriften der Versicherungsbedingungen, die dem Versicherungsvertrag zu Grunde liegen, sind daher wie die Polizze nach § 3 Abs 2 VersVG auszufolgen.

 

Von § 3 Abs 3 VersVG sind allerdings nur vom Versicherungsnehmer oder in seinem Namen abgegebene Erklärungen umfasst. Das auf sämtliche über den Inhalt des Versicherungsvertrags abgegebene Erklärungen gerichtete Begehren zu Punkt 7. besteht daher nur hinsichtlich der Erklärungen des Versicherungsnehmers zu Recht und ist im Übrigen abzuweisen.

 

Das Begehren auf „Abschriften bzw Information“ in Bezug auf Einzahlungsdaten (Datum und Höhe) und Summe der Einzahlungen sowie über den Wertstand des Vertrags zum letzten Jahres- und Monatsultimo (Punkte 5. und 6.) besteht ebenfalls nicht zu Recht, weil es nicht Erklärungen des Versicherungsnehmers zum Gegenstand hat.