OGH: Zur Gefährdung des Kindeswohls bei Verweigerung des Schulbesuchs durch die Eltern
Üben die Eltern in schulischen Belangen die Pflege und Erziehung in einer das Kindeswohl gefährdenden Art aus, so ist es notwendig, ihnen insoweit die Obsorge auch im Bereich der Pflege und Erziehung zu entziehen
§ 138 ABGB, § 160 ABGB, § 178 ABGB, §§ 181 f ABGB
GZ 2 Ob 136/18s, 25.09.2018
OGH: Durch die Verweigerung des Schulbesuchs ist hier das Kind zunächst im Recht auf Bildung (Art 2 des 1. Zusatzprotokolls der EMRK) verletzt. Dieses Recht wird nämlich als Recht des Kindes verstanden. Es verlangt eine Abwägung zwischen den Interessen der Eltern, ihre Erziehungsmethoden und ihre Weltanschauung durchzusetzen, gegenüber dem Recht des Kindes auf eine ordentliche Ausbildung und dem Anspruch des Staates, seinen Bürgern die Teilhabe an gesellschaftlichen Institutionen zu ermöglichen, gleichzeitig aber sicherzustellen, dass die Kinder jenes Rüstzeug erhalten, das sie benötigen, um den später an sie gestellten Anforderungen gerecht zu werden. Dadurch, dass das Kind keine Nachweise über Schulabschlüsse erwirbt und aller Voraussicht nach auch bis zur Volljährigkeit weder einen Pflichtschulabschluss noch ein Maturazeugnis erwerben wird, ist sein berufliches Fortkommen erheblich beeinträchtigt. Es ist zwar im vorliegenden Fall nicht ausgeschlossen, dass es einen Beruf erlernen kann, der exakt seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten entspricht. Jedoch gilt dies nur, wenn es kein Wissen nachweisen muss, das es nicht erlangt hat. Es ist allgemein und daher auch den Gerichten bekannt, dass ohne Bildungsnachweise unselbstständige Berufe - von bloßen, schlecht bezahlten Hilfstätigkeiten abgesehen - nicht oder nur sehr schwer zu erlangen sind. Jedoch sind auch für viele selbstständige Berufe Bildungsnachweise erforderlich. Für die meisten Berufe wird dem Kind daher mangels jeglicher Bildungsnachweise voraussichtlich der Weg verschlossen bleiben, wenn an der bisherigen Erziehung im Bereich der Bildung nichts geändert wird. Schon die realistische Möglichkeit einer derart schwerwiegenden Beschränkung seiner beruflichen Perspektiven gefährdet das Kindeswohl.
Gefährden die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des mj Kindes, so hat das Gericht, von wem immer es angerufen wird, die zur Sicherung des Wohles des Kindes nötigen Verfügungen zu treffen. Besonders darf das Gericht die Obsorge ganz oder teilweise, auch gesetzlich vorgesehene Einwilligungs- und Zustimmungsrechte, entziehen (§ 181 ABGB). Die gänzliche oder teilweise Entziehung der Pflege und Erziehung oder der Verwaltung des Vermögens des Kindes schließt die Entziehung der gesetzlichen Vertretung in dem jeweiligen Bereich mit ein; die gesetzliche Vertretung in diesen Bereichen kann für sich allein entzogen werden, wenn die Eltern oder der betreffende Elternteil ihre übrigen Pflichten erfüllen. Durch eine Verfügung nach § 181 ABGB darf das Gericht die Obsorge nur so weit beschränken, als dies zur Sicherung des Wohles des Kindes nötig ist (§ 182 ABGB). Nach § 160 Abs 1 ABGB umfasst die Pflege des mj Kindes besonders die Wahrnehmung des körperlichen Wohles und der Gesundheit sowie die unmittelbare Aufsicht, die Erziehung besonders die Entfaltung der körperlichen, geistigen, seelischen und sittlichen Kräfte, die Förderung der Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes sowie dessen Ausbildung in Schule und Beruf. Da hier die Eltern in schulischen Belangen die Pflege und Erziehung in einer das Kindeswohl gefährdenden Art ausgeübt haben, ist es notwendig, ihnen insoweit die Obsorge auch im Bereich der Pflege und Erziehung zu entziehen.