OGH: Einstellung / Unterbrechung des Rückführungsverfahrens iSd § 111e AußStrG
Ob eine Entscheidung einer ausländischen Behörde iSd § 111e AußStrG „rechtskräftig“ ist, ist nach den Maßstäben des österreichischen Verfahrensrechts zu beurteilen; die im ausländischen Recht allenfalls gegebene Möglichkeit, eine rechtskräftige Entscheidung in Ausnahmsfällen, etwa im Wege einer Nichtigerklärung oder einer Wiederaufnahme (vgl §§ 529 ff ZPO; §§ 72 ff AußStrG), zu beseitigen, steht der „Rechtskraft“ einer Entscheidung iSd § 111e AußStrG nicht entgegen; „rechtswirksam“ ist eine Entscheidung iSd § 111e AußStrG, wenn ihr nach dem ausländischen Recht die Beschlusswirkungen iSd § 43 Abs 1 AußStrG (Vollstreckbarkeit, Verbindlichkeit der Feststellung oder Rechtsgestaltung) zukommen oder mit anderen Worten wenn ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung keine aufschiebende Wirkung hat
§ 111e AußStrG, HKÜ
GZ 6 Ob 143/18z, 26.09.2018
OGH: § 111e AußStrG wurde mit dem Kinder-RückführungsG 2017 – KindRückG 2017 eingeführt, trat gem § 207n AußStrG mit 1. September 2017 in Kraft und ist daher im vorliegenden Fall anzuwenden.
In der Begründung des Initiativantrags heißt es zu dieser Bestimmung:
„Wie in der Praxis vorzugehen ist, wenn während des anhängigen Rückführungsverfahrens im Fluchtstaat eine Sorgerechtsentscheidung im Ursprungsstaat ergeht, ist bisher nicht geregelt. Dass es keine Rückführung mehr geben kann, sobald eine endgültige Sorgerechtsentscheidung das Aufenthaltsbestimmungsrecht dem vormals entführenden Elternteil allein eingeräumt hat, ist klar. Angemessen ist hier eine Einstellung des Verfahrens. Im Fall einer noch nicht rechtskräftigen sowie einer bloß vorläufigen Entscheidung soll, einer Anregung aus der Praxis des OGH folgend, mit Unterbrechung des Rückführungsverfahrens vorgegangen werden.“
Aufenthaltsbestimmungsrecht der Mutter
Im vorliegenden Fall wurde der Mutter als Antragsgegnerin zwar nicht das Recht zur Bestimmung des Aufenthalts des Kindes zugewiesen. Die ungarischen Behörden haben aber die derzeitige Wohnadresse der Mutter in Österreich als „langfristigen, ausländischen Aufenthaltsort des Kindes“ bestimmt.
Dies ist der Zuweisung des Aufenthaltsbestimmungsrechts an die Mutter insoweit gleich zu halten, als mit der Bestimmung des langfristigen, ausländischen Aufenthaltsorts am Wohnort der Mutter der Aufenthalt des Kindes an diesem Ort (ab Rechtswirksamkeit dieser Entscheidungen der ungarischen Behörden) rechtmäßig und damit eine Verletzung des Sorgerechts des Vaters iSd Art 3 HKÜ nicht mehr möglich ist.
Einstellung gem § 111e Satz 2 AußStrG
Die zweitinstanzliche ungarische Entscheidung bezeichnet sich zwar als „rechtskräftig“. Ob aber eine Entscheidung einer ausländischen Behörde iSd § 111e AußStrG „rechtskräftig“ ist, ist nach den Maßstäben des österreichischen Verfahrensrechts zu beurteilen. Danach ist eine Entscheidung (formell) rechtskräftig, wenn sie in der Rechtssache, in der sie ergangen ist, unanfechtbar ist.
Dies trifft auf die zweitinstanzliche ungarische Entscheidung nicht zu. Denn aus deren Rechtsmittelbelehrung geht hervor, dass dagegen ein Verfahren vor dem zuständigen Verwaltungs- und Arbeitsgericht angestrengt werden kann; dies hat der Vater auch getan, sodass eine Aufhebung der Entscheidungen der ungarischen Behörden „wegen Rechtsverletzungen“ möglich ist.
Es liegt daher mit dem Beschluss des Regierungsamts des Komitats B***** vom 2. 7. 2018 keine „rechtskräftige“ Entscheidung iSd § 111e AußStrG vor. Eine Einstellung des Rückführungsverfahrens nach dieser Gesetzesbestimmung kommt daher nicht in Betracht.
Ergänzend sei der Vollständigkeit halber angemerkt: Die im ausländischen Recht allenfalls gegebene Möglichkeit, eine rechtskräftige Entscheidung in Ausnahmsfällen, etwa im Wege einer Nichtigerklärung oder einer Wiederaufnahme (vgl §§ 529 ff ZPO; §§ 72 ff AußStrG), zu beseitigen, steht hingegen der „Rechtskraft“ einer Entscheidung iSd § 111e AußStrG nicht entgegen.
Unterbrechung gem § 111e Satz 1 AußStrG
Zu prüfen ist daher weiter, ob die Voraussetzungen für die Unterbrechung des Rückführungsverfahrens nach § 111e Satz 1 AußStrG gegeben sind.
Dass die beiden Entscheidungen der ungarischen Behörden „bloß vorläufig“ sind, ergibt sich aus deren Spruch nicht.
Wie dargelegt, liegt im zweitinstanzlichen Beschluss vom 2. 7. 2018 eine „nicht rechtskräftige“ Entscheidung iSd § 111e AußStrG vor.
§ 111e Satz 1 AußStrG verlangt für die Unterbrechung schließlich, dass die bloß vorläufige oder nicht rechtskräftige Entscheidung „rechtswirksam“ ist.
„Rechtswirksam“ ist eine Entscheidung iSd § 111e AußStrG, wenn ihr nach dem ausländischen Recht die Beschlusswirkungen iSd § 43 Abs 1 AußStrG (Vollstreckbarkeit, Verbindlichkeit der Feststellung oder Rechtsgestaltung) zukommen oder mit anderen Worten wenn ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung keine aufschiebende Wirkung hat.
Aus der vorliegenden deutschen Übersetzung des Spruchs sowie der Rechtsmittelbelehrung des Beschlusses vom 2. 7. 2018 ergibt sich nicht, ob der Beschluss rechtswirksam ist.
Das Verfahren nach dem HKÜ ist ein Eilverfahren. Für das Provisorialverfahren wurde ausgesprochen, dass der Antragsteller dem Gericht die rechtlichen Grundlagen seines Anspruchs, und zwar auch das anzuwendende ausländische Recht, zu bescheinigen hat. Art 8 lit f HKÜ sieht vor, dass dem Antrag auf Rückführung eine Bescheinigung oder eidesstattliche Erklärung (Affidavit) über die einschlägigen Rechtsvorschriften des Ursprungsstaats beigefügt werden kann.
In diesem Sinn hat der Antragsteller (Gegner des Entführers) zumindest zu behaupten, dass er gegen eine nicht rechtskräftige ausländische Entscheidung iSd § 111e AußStrG ein Rechtsmittel oder einen sonstigen Rechtsbehelf erhoben hat und dass diesen nach dem ausländischen Verfahrensrecht aufschiebende Wirkung zukommt.
Dass die vom Vater beim Verwaltungs- und Arbeitsgericht eingebrachte Klage aufschiebende Wirkung hat, hat er aber nicht einmal behauptet. Es ist daher davon auszugehen, dass der Beschluss des Regierungsamts des Komitats B***** vom 2. 7. 2018 rechtswirksam iSd § 111e Satz 1 AußStrG ist.
Die Voraussetzungen für eine Unterbrechung des Rückführungsverfahrens gem § 111e Satz 1 AußStrG liegen daher vor.
Eine Unterbrechung kann auch noch im Rechtsmittelverfahren, somit auch im Verfahren über einen Revisionsrekurs, stattfinden.