OGH: Maßnahmen nach § 107 Abs 3 AußStrG (hier: Verbot der Ausreise mit dem Kind und die Abnahme der Reisedokumente des Kindes)
Das Gericht darf die Abnahme des Reisepasses des Kindes bzw ein Ausreiseverbot mit dem Kind nur bei objektiven Anhaltspunkten für eine geplante Mitnahme des Kindes ins Ausland durch den Elternteil und nach Prüfung der Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme anordnen; die Maßnahme der Abnahme der Reisepässe muss nicht die ultima ratio darstellen, die erst nach Ausschöpfung anderer Maßnahmen zulässig wäre
§ 107 AußStrG, § 138 ABGB, § 179 ABGB, § 180 ABGB, § 181 ABGB
GZ 10 Ob 34/18z, 23.05.2018
Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Vaters gegen den vorläufigen Entzug der Obsorge nicht Folge, dem Rekurs der Mutter gab es teilweise Folge. Soweit für das Revisionsrekursverfahren noch wesentlich ist der Inhalt dieser Entscheidung dahin wiederzugeben, dass die Abweisung des Antrags auf Aufhebung des Ausreiseverbots mit dem Kind und auf Ausfolgung der Reisepässe bestätigt wurde und nunmehr auch dem Vater der Auftrag erteilt wurde, binnen sechs Monaten eine Erziehungsberatung im Ausmaß von zehn Einheiten zu absolvieren. Das Rekursgericht führte (zusammengefasst) rechtlich aus, die Sorge des Vaters, die Mutter könnte mit dem Kind Österreich auf Dauer verlassen und nach Russland zu ihrer Familie ausreisen, sei im Hinblick auf die im vorliegenden Fall gegebenen Umstände nachvollziehbar. Zudem liege Russland außerhalb des „Schengen-Raums“, weshalb eine Rückführung nach Österreich nur schwer durchsetzbar wäre. Wegen der im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Beschlussfassung gegebenen Konfliktlage zwischen den Eltern sei zur Sicherung des Kindeswohls nicht nur der Mutter, sondern auch dem Vater die Absolvierung einer Erziehungsberatung aufzutragen.
OGH: Maßnahmen nach § 107 Abs 3 AußStrG stellen besondere Verfahrensregelungen zur Sicherung des Kindeswohls dar, wobei eine Gefährdung des Kindeswohls nicht Voraussetzung ist. Die angeordnete Maßnahme muss zur Sicherung des Kindeswohls erforderlich und geeignet sein, der damit verbundene Eingriff in das Privatleben der betroffenen Person darf aber im Hinblick auf Art 8 Abs 1 EMRK nicht außer Verhältnis zu der damit intendierten Förderung der Interessen des Kindes stehen.
Um das Recht des Kindes auf persönlichen Kontakt zu sichern, kommen als derartige Maßnahmen ua das Verbot der Ausreise mit dem Kind und die Abnahme der Reisedokumente des Kindes in Frage (§ 107 Abs 3 Z 4 und 5 AußStrG). Ebenso wie die nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffende Entscheidung, inwieweit einem Elternteil das Kontaktrecht eingeräumt werden soll, ist auch die hier zutreffende Entscheidung grundsätzlich von den Umständen des Einzelfalls abhängig.
Das Gericht darf die Abnahme des Reisepasses des Kindes bzw ein Ausreiseverbot mit dem Kind nur bei objektiven Anhaltspunkten für eine geplante Mitnahme des Kindes ins Ausland durch den Elternteil und nach Prüfung der Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme anordnen.
Mit ihrer Ansicht, auch im vorliegenden Fall seien objektive Anhaltspunkte gegeben, die eine vorläufige Abnahme der Reisepässe des Kindes erforderlich machen, haben die Vorinstanzen den ihnen – innerhalb dieser Rsp zukommenden – Beurteilungsspielraum noch nicht überschritten. Wenngleich die Revisionsrekurswerberin eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vermisst, zeigt sie nicht auf, welche Umstände berücksichtigt hätten werden müssen, die ihre Interessen an weiteren ausgedehnten Aufenthalten mit dem Kind im Ausland so vordringlich erscheinen lassen, dass sie der Gefahr dessen Entfremdung vom getrennt lebenden Vater vorgehen könnten. Erfahrungsgemäß ist gerade bei Kindern in geringem Alter der Zeitraum bis zum Abbau von Bindungen zu Bezugspersonen, die ihnen infolge Trennung der Eltern nicht mehr unmittelbar zur Verfügung stehen, sehr kurz. Die Maßnahme der Abnahme der Reisepässe muss auch nicht die ultima ratio darstellen, die erst nach Ausschöpfung anderer Maßnahmen zulässig wäre. Die vom Rekursgericht seiner Entscheidung zugrundelegte Ansicht, im Hinblick auf die Umstände des vorliegenden Einzelfalls bestehe das Sicherheitsbedürfnis des Kindes auch nach nunmehr elfmonatiger Dauer des Verfahrens über die endgültige Obsorgezuteilung fort, ist jedenfalls nicht unvertretbar.
Neuerungen sind nur soweit beachtlich, als ein entsprechendes Tatsachenvorbringen im Verfahren erster Instanz nicht möglich war (§ 49 Abs 2 AußStrG). Aus welchen besonderen Gründen die Revisionsrekurswerberin nicht bereits im Verfahren erster Instanz in der Lage gewesen wäre, das Argument vorzutragen, sie werde mit dem Kind Österreich schon deshalb nicht verlassen, weil sie nicht mehr im Frauenhaus lebe, sondern nunmehr über eine eigene Wohnung verfüge, wird nicht dargelegt. Im Hinblick darauf, dass sie den Vertrag über die Nutzung dieser Wohnung bereits am 2. 5. 2017 – somit vor dem Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung vom 7. 9. 2017 – unterzeichnet hat (wie sich aus dem mit dem Revisionsrekurs erstmals vorgelegten Heim-Nutzungsvertrag eindeutig ergibt), wäre ein derartiges Vorbringen aber erforderlich gewesen.