20.02.2018 Zivilrecht

OGH: Zur Frage, ob sich ein Facharzt für Radiologie, der die Durchführung einer Thoraxcomputertomographie übernimmt, haftungsbefreiend darauf berufen kann, einen Zufallsbefund mangels vertiefter Ausbildung im Halsbereich nicht erkannt zu haben

Im vorliegenden Fall ist entscheidungsrelevant, dass der Kläger dem Beklagten von dessen Hausarzt zur Nachkontrolle nach Entfernung eines Nierenkarzinoms überwiesen worden war; die Zuweisung bezog sich auf die Bereiche Thorax, Abdomen und Becken; wie bereits das Erstgericht zutreffend hervorgehoben hat, war somit die Untersuchung der Schilddrüse des Klägers nicht Gegenstand der Zuweisung und daher auch nicht des Behandlungsvertrags zwischen den Parteien; für über das übliche Ausmaß hinausgehende Kenntnisse wird nicht gehaftet; nach den Ausführungen des Sachverständigen (nur 15 % der Radiologen erkannten Auffälligkeiten im Schilddrüsenbereich) und den Feststellungen kann nicht davon ausgegangen werden, dass der durchschnittliche Radiologe das Karzinom als Zufallsbefund erkannt hätte


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Arzthaftung, Facharzt, Zufallsbefund, über das übliche Ausmaß hinausgehende Kenntnisse
Gesetze:

 

§§ 1295 ff ABGB, § 1299 ABGB

 

GZ 6 Ob 233/17h, 17.01.2018

 

OGH: Es ist zwischen den Parteien nicht strittig, dass auf den Beklagten als Facharzt der Haftungsmaßstab des § 1299 ABGB anzuwenden ist. Ärzte haben den Mangel der gewissenhaften Betreuung ihrer Patienten nach Maßgabe der ärztlichen Wissenschaft und Erfahrung zu vertreten, also jene Sorgfalt, die von einem ordentlichen und pflichtgetreuen Durchschnittsarzt in der konkreten Situation erwartet wird. Die Behandlung muss entsprechend den Grundsätzen der medizinischen Wissenschaft und den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgen. Ob ein Arzt seine Sorgfaltspflichten erfüllt hat, hängt daher stets davon ab, wie sich ein verantwortungsbewusster und gewissenhafter Arzt in concreto verhalten hätte. Der Arzt handelt nicht fahrlässig, wenn die von ihm gewählte Behandlungsmethode einer Praxis entspricht, die von angesehenen, mit dieser Methode vertrauten Medizinern anerkannt ist. Ein Verstoß gegen die Regeln medizinischer Kunst liegt dagegen vor, wenn die vom Arzt gewählte Maßnahme hinter dem in Fachkreisen anerkannten Standard zurückbleibt. Ein Arzt handelt fehlerhaft, wenn er das in Kreisen gewissenhafter und aufmerksamer Ärzte oder Fachärzte vorausgesetzte Verhalten unterlässt.

 

Konkret zur Diagnostik ist anerkannt, dass der Arzt Diagnostik, Aufklärung und Beratung nach den aktuell anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst schuldet. So kann beispielsweise eine Haftung entstehen, wenn eine weitere Diagnostik unterlassen wird, obwohl diese indiziert gewesen wäre. Auch bei der Erstellung einer Diagnose ist daher entscheidend, wie ein verantwortlicher Arzt in der konkreten Situation vorgegangen wäre; weitergehende Untersuchungen können dort nicht verlangt werden, wo nach den Umständen des konkreten Falls keine Anhaltspunkte oder konkrete Verdachtsmomente für eine durch eine solche Untersuchung feststellbare Erkrankung oder Verletzung vorliegen.

 

Im vorliegenden Fall ist entscheidungsrelevant, dass der Kläger dem Beklagten von dessen Hausarzt zur Nachkontrolle nach Entfernung eines Nierenkarzinoms überwiesen worden war; die Zuweisung bezog sich auf die Bereiche Thorax, Abdomen und Becken. Wie bereits das Erstgericht zutreffend hervorgehoben hat, war somit die Untersuchung der Schilddrüse des Klägers nicht Gegenstand der Zuweisung und daher auch nicht des Behandlungsvertrags zwischen den Parteien. Nach den Feststellungen hat der Beklagte die allgemeine Ausbildung als Radiologe absolviert und nimmt an den von der Ärztekammer vorgeschriebenen Fortbildungen teil; dass er für die Durchführung der vom Hausarzt angeordneten Nachkontrolle ungeeignet gewesen wäre, behauptet der Kläger nicht. Nach den weiteren Feststellungen hätte aber „ein Großteil der Radiologen ohne vertiefte Ausbildung“ Zufallsbefunde bezüglich der Schilddrüse nicht erkannt; gerade darauf kommt es hier aber an.

 

Der Arzt haftet als Sachverständiger iSd § 1299 ABGB nicht für außergewöhnliche Kenntnisse und außergewöhnlichen Fleiß, wohl aber für die Kenntnisse und den Fleiß, den seine Fachgenossen gewöhnlich haben. Entscheidend ist der Leistungsstand der betreffenden Berufsgruppe, folglich gilt ein objektiver Verschuldensmaßstab, der sich durch die typischen Fähigkeiten des jeweiligen Berufsstands definiert. Da es auf die übliche Sorgfalt jener Personen ankommt, die die betreffende Tätigkeit ausüben, kann sich der Einzelne nicht unter Berufung auf mangelnde individuelle Fähigkeiten entlasten. Allerdings darf der Sorgfaltsmaßstab des § 1299 ABGB auch nicht überspannt werden. Wenn Maßstab nicht die spezifische individuelle Erfahrung eines Mitglieds einer bestimmten Untergruppe eines Berufszweigs, sondern das durchschnittlich in der Branche zu erwartende Wissen ist, wird auch nicht für außergewöhnliche Kenntnisse und außergewöhnlichen Fleiß gehaftet. So hat der erkennende Senat erst jüngst eine Haftung verneint, weil – damals der bevorstehende Kurzschluss bei einem Traktor – nur bei einer „überragenden Spitzenleistung“ des Beklagten erkennbar gewesen wäre.

 

Nur wenn der Fachmann tatsächlich über den Standard seiner Berufsgruppe hinausgehende, also auch für einen Fachmann außergewöhnliche Kenntnisse besitzt, muss er diese zur Schadensabwendung einsetzen, wenn ihm das nur jedermann zumutbare Anstrengungen abfordert: So darf beispielsweise ein Arzt, der auf Grund eigener Forschung um die besondere Schädlichkeit eines in der Fachwelt als harmlos beurteilten Medikaments weiß, dieses nicht einsetzen; desgleichen hat ein Chirurg, der auch ausgebildeter Anästhesist ist, erforderlichenfalls sein Zusatzwissen einzusetzen.

 

Für über das übliche Ausmaß hinausgehende Kenntnisse wird somit nicht gehaftet. Nach den Ausführungen des Sachverständigen im Verfahren erster Instanz (nur 15 % der Radiologen erkannten Auffälligkeiten im Schilddrüsenbereich) und den Feststellungen kann nicht davon ausgegangen werden, dass der durchschnittliche Radiologe das Karzinom als Zufallsbefund erkannt hätte. Auch der Kläger verweist in seiner Rekursbeantwortung selbst auf Pitzl/Huber/Lichtenegger (Der Sorgfaltsmaßstab des behandelnden Arztes, RdM 2007/2), wonach der Sorgfaltsmaßstab nicht anhand eines Universitätsprofessors, sondern anhand eines Durchschnittsarztes zu definieren ist, der nicht sub auspiciis promoviert, sondern im Durchschnitt „befriedigende“ Leistungen erbracht hat.

 

Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass nach den Feststellungen ein Nierenzellkarzinom mit einem medullären Schilddrüsenkarzinom nicht im Zusammenhang steht, es zu Metastasierungen nach einem Nierenzellkarzinom in die Schilddrüse nur in 5 bis 7 % der Fälle kommt, die Häufigkeit eines medullären Schilddrüsenkarzinoms in der österreichischen Bevölkerung bei weniger als 0,001 % liegt, weder Computertomographie noch Mehrschichtcomputertomographie geeignete Untersuchungsmethoden der Schilddrüse sind, insbesondere auch nicht eines medullären Schilddrüsenkarzinoms, sondern vielmehr eine Sonographie anzuwenden wäre, und dass die Computertomographie beim Kläger mehr als 2.500 Einzelbilder bzw 320 Mehrschichtbilder erbrachte, wobei der pathologische (abnorme) Befund nur auf ein bis drei Bildern im Randbereich erkennbar gewesen wäre.

 

Für die Annahme eines haftungsbegründenden Verhaltens des Beklagten besteht unter Berücksichtigung all dieser Umstände somit kein Anlass. Für ein vertieftes Spezialwissen, über das er nicht verfügte, hat der Beklagte hier nicht einzustehen. Dass sich ein Arzt, der sich nirgendwo vertieft, dann in vielen Bereichen exkulpieren könnte, wie der Kläger meint, entspricht nicht § 1299 ABGB, der einen objektiven Maßstab in Gestalt der durchschnittlich vorherrschenden Kenntnisse anlegt.